Bevor Claas Relotius im vergangenen Jahr einen Beitrag im “Spiegel” über seine Zeit in einer kleinen Stadt in Minnesota veröffentlichte, ahnten Michele Anderson und Jake Krohn bereits, das etwas nicht stimmte.
Doch mit einem Skandal dieser Größenordnung hatten sie nicht gerechnet.
Der mittlerweile ehemalige “Spiegel”-Journalist Relotius galt noch vor einigen Tagen als Aushängeschild des deutschen Journalismus. Relotius Arbeit, insbesondere seine lebendigen Reportagen, wurden mit zahlreichen Journalistenpreisen bedacht.
Doch am Mittwoch veröffentlichte der “Spiegel” das Ergebnis einer eigenen Recherche, die zeigte, dass große Teile in Relotius Artikeln, Reportagen und Interviews erfunden waren. Seine Preise hat der 33-Jährige mittlerweile zurückgegeben.
Relotius war im Februar 2017 vom “Spiegel” nach Fergus Falls, einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA geschickt worden. Dort sollte er mehrere Wochen unter Einheimischen verbringen. Es ging vor allem um die Frage, warum Amerikas Landbevölkerung zu den größten Unterstützern von US-Präsident Donald Trump zählen. Der Titel seiner Reportage: “Ein Monat unter Menschen, die sonntags für Donald Trump beten”.
Michele Anderson und Jake Krohn stammen aus eben jener Kleinstadt, der Relotius einen Besuch abstattete. Anderson hatte die Reportage des deutschen Starjournalisten einem Faktencheck unterzogen. Mit dem Ergebnis: “Es gibt so viele Lügen”, dass sie sich für ihren eigenen Artikel auf die absurdesten beschränken musste. Sie gab ihrem Beitrag die Überschrift: “Der ‘Spiegel’-Journalist hat sich mit der falschen Kleinstadt angelegt.”
Die HuffPost US sprach am Donnerstag mit Anderson und Krohn über ihre Begegnung mit Relotius und über den Umgang der Medien mit ländlichen Städten wie Fergus Falls seit Trump Präsident ist.
HuffPost: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie die Geschichte zum ersten Mal gelesen haben?
Jake Krohn: Eine Art verwirrter Unglaube. Wir haben mit Google Translate die ersten Absätze übersetzt, um zu sehen, wie der Grundtenor der Geschichte sein würde. Und es war nicht gut – die Absätze wirkten befremdlich und seltsam – also haben wir auch den Rest übersetzt.
Und das ganze las sich, wie die Beschreibung einer seltsamen und fremden Landschaft, in der man zwar die Sehenswürdigkeiten und die Leute kennt, über die er spricht. Aber gleichzeitig unterscheidet es sich von allem, was man über die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort weiß.
Was war die Lüge, die ihr beim Lesen als dreisteste oder beleidigendste wahrgenommen habt?
Michele Anderson: Es ist schwer, nur eine auszuwählen, weil es einfach die Mischung aus allem war. Aber ich meine, es gibt einige sehr einfallsreiche Beschreibungen der Gemeinschaft, die einfach aus dem Nichts kommen.
Die eine Sache, die wirklich hervorsticht und so willkürlich erscheint, ist die Schilderung einer High-School-Reise. Dabei will er eine Gruppe von Schülern begleitet haben, die von Fergus Falls nach New York City gereist sei. Als sie in New York angekommen seien, hätten sie dann all die wichtigen, klassischen Sehenswürdigkeiten, so wie die Freiheitsstatue ausgelassen, und seien nur zum Trump Tower gegangen.
Also, nicht nur hat es diese New York-Reise nie gegeben. In was für einer Welt würde eine Gruppe von Schülern all diese Orte in New York City auslassen, Orte die wirklich jeder, unabhängig von der politischen Ausrichtung, ansehen möchte?
Es ist nur ein Beispiel, aber für mich sticht es gerade in diesem Moment besonders hervor. Ich weiß nicht – er hat seinen Artikel mit dieser Geschichte beendet und es scheint so, ähm, aus dem Nichts zu kommen, er muss gedacht haben, er könnte damit durchkommen.
Eine Sache, die ich persönlich besonders schockierend fand, war, dass er nicht fiktive Geschichten über fiktive Menschen erfand. Sondern, dass er seine erfundenen Geschichten mit realen Personen verflechtet hat.
Anderson: Absolut, er sprach wirklich nur mit den Leuten, um Fotos von ihnen zu machen, und dann zog er alleine von dannen.
Du hast in dem Stück gesagt, dass er wirklich die Chance hatte, über viele Gespräche die vielschichtigen Perspektiven eurer Stadt und des Lebens im ländlichen Amerika zu sprechen. Könntest du mir mehr davon erzählen, Michele?
Anderson: Es hat sich so angefühlt – nicht nur mit diesem Journalisten, sondern auch mit anderen Artikeln, die ich über Kleinstädte gelesen habe – als ob sie die Geschichte erzählen wollen, die sie bereits im Kopf haben. Und sie suchen nur nach kleinen Belegen, um diese damit zu untermauern.
Es gab in den letzten Monaten einige gute Artikel, aber selbst die New York Times hat kürzlich einen Artikel veröffentlicht – der Autor schlug darin vor: Anstatt sich über einen Mangel an Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten zu beschweren, sollten die Menschen einfach in die Stadt ziehen. Es gibt also eine Menge Missverständnisse, und je mehr Artikel wie die von Claas herauskommen, desto mehr Arbeit haben wir zu erledigen. Und in der Zwischenzeit versuchen wir nur (...) unsere Gemeinschaften zu verbessern.
Was denkst du, wie haben die anderen Leute aus der Community es aufgefasst, als du während deines Fakten-Checks mit ihnen über den Reporter und seine Geschichte gesprochen hast?
Anderson: Die anderen Leute fühlten sich ziemlich ähnlich. Die Leute waren ziemlich wütend, aber auch irgendwie amüsiert. (...) Ich denke, vor allem die Menschen, die er ausgewählt hatte, fühlten sich ausgenutzt und machtlos. Es waren also sehr gemischte Reaktionen.
Es gab viele Gespräche darüber, wie wir darauf reagieren sollen. Aber aus Respekt vor den Betroffenen gab es auch eine Art Konsens darüber, dass der Artikel nicht noch mehr Aufmerksamkeit erhalten sollte.
Wir waren also in einem Zwiespalt und fragten uns “OK, wie verteidigen wir uns, wenn die Geschichte eine noch größere Runde macht?” Als dann gestern die Nachricht kam, hatten Jake und ich schon alles vorbereitet, und wir wussten, okay wir müssen das jetzt durchziehen. Die Leute brauchen diese Informationen jetzt, und es geht nicht mehr um uns.
Wenn du bedenkst, was ihr alles über den Kerl wusstet, wart ihr trotzdem überrascht über das Ausmaß der Erfindungen in all diesen Geschichten?
Anderson: Ich war überrascht, dass es so groß war. Wir waren nur ein kleiner Teil von etwas noch Größerem. Einer der deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, mit denen wir gesprochen haben, sagte, dies sei der zweitgrößte Medienskandal in der deutschen Geschichte nach den “Hitler-Tagebüchern”.
Also ja, wir hatten zuerst gedacht, dass wir vielleicht nur Opfer von einem nachlässig geschrieben Artikel sind. Wenn man bedenkt, dass er das auch an anderen Orten und mit anderen Menschen gemacht hat, ist es erstaunlich, dass er so lange damit durchgekommen ist. Und dass er damit leben konnte.
Du hast in deinem Beitrag über die Geschichte gesprochen, die er über deine Stadt hätte erzählen können. Und ich frage mich, welche Geschichte sollte aus deiner Sicht über eure Stadt geschrieben werden?
Anderson: Es ist eine konservative Gegend, aber ich denke, was ich meinte, ist, dass es viel komplexer zugeht, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Wir sind mehr als nur die (rote, Anmerkung der Redaktion) Farbe (der Republikaner) mit der wir auf der Abstimmungskarte angezeigt werden. Das ist nicht die (einzige) Geschichte, die wir haben. Insbesondere nach Fergus Falls sind viele jüngere Menschen von überall her gezogen. Zum Teil, weil es hier eine wirklich starke Kunstgemeinschaft gibt – das ist auch das Feld, in dem ich arbeite.
Und ich schätze, was ich gerne gelesen hätte, ist, wie wir mit den vielen unterschiedlichen politischen Ansichten umgehen. Und wie es uns dennoch gelingt, eine wirklich starke Gemeinschaft zu bilden. Die Art und Weise, wie wir (...) zusammenarbeiten, aber auch die Art und Weise, wie wir uns gegen den Status quo stemmen, auch wenn wir damit vielleicht gegen die Wand fahren. Also ich würde immer noch gerne beide Seiten der Geschichte hören.
Das Interview ist zuerst in der HuffPost US erschienen und wurde von Viktor Weiser übersetzt und gekürzt. Das Interview wurde leicht bearbeitet und aus Gründen der Übersichtlichkeit verdichtet.