Wenige Wochen vor Weihnachten ist im britischen Parlament keine festliche Stimmung zu spüren. Im Gegenteil: Den Abgeordneten im Unterhaus stehen anstrengende Tage bevor.
Nächsten Dienstag steht die Abstimmung über den Austrittsvertrag der britischen Premierministerin Theresa May an. Noch immer ist eine Mehrheit für Mays Brexit-Deal nicht in Sicht.
Am vergangenen Dienstag erlitt die Premierministerin eine historische Niederlage: Das Unterhaus warf ihrer Regierung vor, das Parlament zu missachten.
Die Abgeordneten erstritten dabei, dass der Generalstaatsanwalt ein Rechtsgutachten über die Folgen des Brexits nun doch veröffentlichen muss.
Das geschah am Mittwoch. Gerade eine Passage des Gutachtens dürfte die Fronten im Parlament weiter verhärten – und die Chancen für May, mit ihrem Deal erfolgreich zu sein, verringern.
Wie es um Theresa May und den Brexit steht – auf den Punkt gebracht.
Die für May gefährliche Passage aus dem Gutachten:
Das 33-seitige Rechtsgutachten von Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox beschäftigt sich mit den rechtlichen Folgen des zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelten Austrittsvertrags.
► Eine Schlüsselpassage darin gilt der Grenze zwischen Nordirland, einem Teil Großbritanniens, und der Republik Irland, einem Mitglied der EU.
Sowohl London als auch Brüssel möchten ausschließen, dass es nach dem Brexit zwischen Nordirland und Irland eine feste Grenze mit Zollkontrollen geben wird. Eine feste Grenze könnte die Gefahr neuer Gewalt auf der irischen Insel wie in den Jahren 1969 bis 1998 erhöhen, so die Befürchtung.
Die EU schlug daher einen sogenannten “backstop” vor. Damit ist eine Lösung gemeint, die eine feste Grenze in jedem Fall ausschließen würde. Konkret sieht der “backstop”, vereinfacht gesagt, vor, dass Großbritannien nach dem Brexit Teil der EU-Zollunion bleibt.
Im Brexit-Gutachten von Cox heißt es nun: Großbritannien als Ganzes oder nur Nordirland könnten möglicherweise auf unbestimmte Zeit in einer Zollunion mit der EU bleiben, sollte kein Abkommen über die künftigen Beziehungen den “backstop”-Mechanismus ersetzen.
Die Passage ist deshalb so umstritten, weil London und Brüssel betont hatten: Beim “backstop” handele es sich um eine temporäre Lösung.
Wie die Abgeordneten auf die Passage reagierten:
Der Fraktionschef der nordirischen DUP, Nigel Dodds, wetterte am Mittwoch wegen des Gutachtens gegen Mays Brexit-Pläne. Die neuen Erkenntnisse des Gutachtens seien “verheerend für die Premierministerin”.
“Uns bleibt keine andere Wahl, als dagegen (gegen den Austrittsvertrag, Anm.) zu stimmen. Die Premierministerin muss wissen, dass sie damit auf eine Niederlage zusteuert. Aber sie bleibt dabei, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen”, sagte Dodds der BBC.
Für May sind das in der Tat verheerende Nachrichten: Die nordirische DUP von Dodds ist der Koalitionspartner von Mays Tories im Unterhaus. Um eine Mehrheit im Parlament zu erreichen, ist sie auf die Stimmen der DUP angewiesen.
Aber auch die Oppositionspartei Labour ist verärgert. Brexit-Schattenminister Keir Starmer sagte, das Gutachten habe “die zentralen Schwachstellen des Deals der Regierung enthüllt”.
Die Kritikpunkte von Labour sind: Großbritannien müsste sich mit Mays Brexit-Deal weiter an EU-Regeln halten, habe aber kein Mitspracherecht mehr. Labour ist für einen möglichst weichen Brexit. Das heißt: Großbritannien soll sich so nah wie möglich an die EU binden.
Neben der DUP und Labour kommt es auch auf die Tory-Abgeordneten selbst an. Auch zahlreiche Tories sind gegen den verhandelten Austritt. Vor allem die Brexit-Hardliner fürchten, dass der “backstop” dazu führt, dass Großbritannien an EU-Recht gebunden bleibt. Das Rechtsgutachten bestätigt diese Sorgen.
Wie es für May jetzt weitergeht:
Das Unterhaus dürfte in der ersten Abstimmung den Brexit-Deal von May am Dienstag ablehnen. Derzeit kommt May auf 227 Stimmen, sie bräuchte allerdings 320.
Es wird erwartet, dass May den Austrittsvertrag ein zweites Mal zur Abstimmung ins Parlament einbringt.
► Zu schaffen aber machen der Premierministerin auch die Folgen weiterer Niederlagen, die sie am vergangenen Dienstag im Parlament erlitt.
Dominic Grieve, Tory-Abgeordneter und einer der EU-Befürworter in seiner Partei, erstritt durch einen Änderungsantrag, dass die Parlamentarier bei den nächsten Schritten der Regierung im Brexit-Prozess eingebunden sein werden, falls der Brexit-Deal im Unterhaus scheitert.
Das heißt: Sollte der jetzige Deal durchfallen, haben die Abgeordneten ein Mitspracherecht bei einer neuen Fassung von Mays Deal. Die Hinterbänkler im Unterhaus hoffen, dass sie den Austritt dann mit Anträgen in ihrem Sinne abändern können.
Zwar wären die Anträge der Abgeordneten rechtlich nicht bindend. Sollte May sie allerdings ignorieren, wäre das politisch hoch kontrovers.
Doch Großbritannien droht ohnehin neues politisches Chaos. Falls May scheitert, könnte auch ein zweites Referendum über den Brexit diskutiert werden.
In einem Treffen der Brexit-Hardliner um den Tory-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, einen Erzfeind von May, am Mittwoch sei zudem auch wieder über ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin gesprochen worden, berichtet Paul Waugh von der britischen Ausgabe der HuffPost.
Wenn May verliert, könnte sie auch als Premierministerin zurücktreten. Oder Neuwahlen ausrufen. Wie es im Brexit weitergeht, ist also schwer vorauszusagen.
Über allen Optionen – außer einem äußerst unwahrscheinlichen Erfolg Mays bei der Abstimmung – schwebt zudem das Schreckgespenst des No-Deal-Brexits, eines ungeregelten Austritts aus der Europäischen Union.
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Der Stand beim Brexit – den Punkt gebracht:
Am Mittwoch begann die erste von insgesamt fünf achtstündigen Debatten im Unterhaus vor der Abstimmung über den Austrittsvertrag. Die Chancen für May, bei der entscheidenden Abstimmung erfolgreich zu sein, haben sich zuletzt weiter verschlechtert.
Die Zukunft für Großbritannien und damit auch für Europa ist ungewiss.