Als Che Bullock im August 2013 in einem Krankenhaus erwachte, fühlte er sich zunächst dankbar, überhaupt noch am Leben zu sein. Auf ihn war dreizehnmal vor einem Nachtclub in einem Vorort Washingtons eingestochen worden, Rettungskräfte brachten ihn mit dem Hubschrauber in eine Klinik, wo Ärzte sein Leben retteten.
Bullocks Gefühl der Erleichterung verblasste schnell. Zuerst waren da körperliche Schmerzen, dann Angst und schließlich Wut auf seine Angreifer.
“Es war so, als hätten sie einen Anschlag auf mich verübt”, sagt Bullock, heute 30 Jahre alt. Er erinnert sich an Freunde, die in sein Krankenhauszimmer kamen, um Wache zu halten.
Nur wenige Tage nach den Messerstichen hatte sich Bullock erholt. Er kehrte nach Hause in den Washingtoner Vorort zurück, wo die Personen warteten, die versucht hatten, ihn zu töten. Bullock war bereit, sich zu verteidigen – aber auch bereit, zurückzuschlagen.
Aber bevor er unüberlegt handeln konnte, erhielt Bullock einen Anruf von Joseph Richardson Jr., einem Assistenzprofessor der University of Maryland. Richardson machte ihm ein Angebot, er bot ihm eine Alternative zur Gewalt.
Der heute 50-jährige Professor lud ihn ein, an einer Studie über junge schwarze Männer teilzunehmen, auf die mehr als einmal geschossen oder eingestochen worden war. Bullock zögerte erst und dachte, Richardson könnte mit der Polizei zusammenarbeiten, aber am Ende entschied er sich, sich anzumelden.
Diese Studie rettete wohl sein Leben.
Ein Ausweg aus der Gewalt
► Waffengewalt ist eines der größten Probleme der USA. Jedes Jahr führen Schüsse zu mehr als 33.000 Toten. Etwa ein Drittel davon sind Morde, Zehntausende Schüsse enden nich tödlich, aber mit Verletzungen.
Wie sich die Gewalt stoppen lässt, ist seit Jahrzehnten ein Thema. Die Politik macht dabei nur langsam Fortschritte. Richardson und andere haben sich daher entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Sie nehmen die Opfer in den Blick – um ihnen ein Leben ohne Gewalt zu ermöglichen.
Im September 2017 startete Richardson das sogenannte “Capital Region Violence Intervention Program”, also ein Interventionsprogramm für die Region um die amerikanische Hauptstadt. Aus diesem Programm gingen die ersten Studien des Kriminologen Richardson hervor.
Er behandelt die Gewalt wie eine Krankheit. Eine Krankheit kann sich verbreiten, aber mögliche Opfer können sich davor auch durch Impfungen schützen.
Richardson erstellte so das erste Interventionsprogramm im Raum Washington, bei dem die Arbeit bereits im Krankenhaus begann. Insgesamt gibt es 30 solcher Programme in den USA.
Sie alle zielen auf die strukturellen Ursachen von Gewalt ab. Forscher gehen von Ungleichheit als Ursache aus, sowohl in ethnischer als auch in sozio-ökonomischer Hinsicht. Die Verantwortlichen der Programme wollen den Überlebenden Werkzeuge an die Hand geben, um ihr Leben umzukrempeln. Studien haben ergeben, dass dieser Ansatz zu weniger Gewalt führen kann.
Richardsons Programm, an dem auch Opfer von Messerstechereien und anderen Gewalttaten teilnehmen können, hat in seinem ersten Jahr vielversprechende Ergebnisse erzielt. Noch aber reichen die Daten für eine vollständige Analyse nicht aus.
Aber: Von den mehr als 100 bisher eingeschriebenen Patienten ist keiner wegen einer schweren Verletzung wieder ins Krankenhaus eingeliefert worden, sagt Richardson. Ein Drittel aller schwer verletzten Patienten komme üblicherweise mindestens ein zweites Mal ins Krankenhaus.
Der Weg begann mit einer Frage
Bullocks Weg aus der Gewaltspirale begann 2013 mit einer einfachen Frage.
“Eines der ersten Dinge, die Richardson mich fragte, war: ‘Was willst du mit deinem Leben anfangen?’” Bullock erinnert sich noch immer an dieses Treffen.
Bullock wusste nicht, wie er die Frage beantworten sollte. Aber Richardson hatte eine Idee.
Er lud Bullock ein, über seine persönlichen Erfahrungen in einen von Richardsons Kursen an der University of Maryland zu sprechen. Richardson unterrichtet Afroamerikanische Studien.
Der Forscher war überzeugt, dass Bullocks Lebensgeschichte wichtig war. Er musste nur Bullock dazu überreden, sie auch zu erzählen.
In der folgenden Woche machte sich Bullock auf den Weg zum Campus, um seine Geschichte – endend mit dem Messerangriff – vor mehr als 100 Studenten in einem Raum zu erzählen.
“Du hättest eine fallengelassene Nadel im Raum gehört, so sehr waren die Studenten bei der Sache”, sagt Bullock.
Auf der Heimfahrt seien die Gedanken in seinem Kopf gerast. Seine Präsentation war ein Erfolg, und die positive Resonanz der Studenten ließ ihn an andere Möglichkeiten für seine Zukunft denken. Vielleicht könnte er ein Motivationsredner werden?
Aber kurz bevor er auf die Autobahn kam, schoss jemand auf sein Auto. Die Kugel verfehlte Bullock, zerstörte aber ein Fenster und hinterließ eine Wunde an seinem Unterarm. Es waren nur wenige Wochen seit der Messerstecherei vergangen.
Bullock rief Richardson an. Er erzählte ihm, was passiert war – und drängte den Forscher dazu, sich mit ihm zu treffen. Damit er nichts Rücksichtsloses tun würde.
Richardson sagte zu. Die beiden sprachen darüber, warum Bullock wohl überhaupt erst ins Visier geraten war. “Natürlich waren es Drogen”, sagt Bullock heute.
Richardson schlug vor, dass er etwas anderes ausprobieren sollte. Er stellte ihm einen Scheck über 300 US-Dollar aus, um wieder vor der Klasse zu sprechen.
Das reizte den Ehrgeiz des jungen Afroamerikaners. “Als ich anfing, mehr und mehr Vorträge zu halten, dachte ich wirklich nicht daran, mich zu rächen.”
“Was ist der Plan?”
Zum ersten Mal sah Bullock einen anderen Weg für seine Zukunft. Er arbeitete in den nächsten vier Jahren weiterhin mit Richardson zusammen und half ihm bei der Entwicklung des Interventionsprogramms. Im vergangenen Jahr stellte Richardson Bullock ein, um Überlebende zu rekrutieren.
“Wenn ich jetzt in die Räume gehe, frage ich als Erstes, was ist der Plan? Was willst du mit deinem Leben anfangen?”, sagt Bullock. “Die meisten Jungs wissen es nicht.”
Bullock trifft sich täglich mit Patienten im Krankenhaus. Wenn sie entlassen werden, bleibt er bei ihnen. Er hilft den Menschen, Ziele zu finden. Bullock arbeitet auch mit Patienten zusammen, um “Bewältigungsmechanismen” zu entwickeln. Für Stress oder für Traumata.
Wenn Gewalt eine Krankheit ist, was haben Sie dann wirklich geheilt, wenn Sie jemanden zurück zu Menschen schicken, die noch infiziert sind?
Bullock baut Vertrauen und eine Beziehung zu den Patienten auf und bittet sie dann, sich dem Programm anzuschließen. Einige lehnen ab, aber bisher würden 90 Prozent zusagen, sagt Bullock.
Bullock arbeitet auch daran, die Freunde und Verwandten der Überlebenden zu erreichen. Laut Richardson ist das ein wesentlicher Bestandteil des Erfolgs des Modells.
“Wenn Gewalt eine Krankheit ist, was haben Sie dann wirklich geheilt, wenn Sie jemanden zurück zu Menschen schicken, die noch infiziert sind?”, sagt er.
Warum sich die Programme lohnen
Das Programm von Richardson habe bisher keine Geldprobleme gehabt, sagt Programmdirektorin Dawn Moreland. Aber mit etwa 740 teilnehmenden Überlebenden bräuchten sie mittlerweile weitere Mittel, wollten sie das Programm vergrößern.
Aber die Investitionen könnten sich lohnen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2012 kosten die Strafverfolgung, die Justiz und die Gesundheitsvorsorge im Fall von Waffengewalt die USA jährlich 229 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Die Betreuung von 100 Patienten in einem Interventionsprogramm käme dagegen auf Kosten von 300.000 US-Dollar pro Jahr, berichten die Organisationen.
Fast die Hälfte aller Opfer von Morden durch Schusswaffen sind afroamerikanische Männer, dabei machen sie nur sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Diese Typen kommen nach dem Schuss rein, wir schicken sie zurück, sie werden erschossen und sie kommen wieder rein.
Die Waffengewalt gleiche einem fast endlosen Strom, sagt Chirurg Sean Benoit vom Prince George’s Hospital Center, das am Programm von Richardson beteiligt ist.
“Diese Typen kommen nach dem Schuss rein, wir schicken sie zurück, sie werden erschossen und sie kommen wieder rein. Also flicken wir sie nur wieder zusammen”, sagt Benoit. “Wir haben viele Patienten, die das Krankenhaus verlassen, ohne zu wissen, welche Operation wir durchgeführt haben.”
In den vergangenen Jahren hat Benoit angefangen, den Patienten sein Anatomiebuch zu zeigen. Er erklärt ihnen, was bei der Operation geschieht. Das sorge dafür, dass die Überlebenden verstehen, wie nah sie dem Tod entkommen sind, sagt Benoit.
“Viele der Jungs sagen uns, dass dies das erste Mal ist, dass sich jemand tatsächlich darum kümmerte, was mit ihnen passiert ist. Dass dies das erste Mal ist, dass sie mit jemandem gesprochen haben, der sich darum kümmert, ob sie die Schule beenden und einen Job bekommen”, sagt er.
Studien deuten darauf hin, diese Art der Interventionsprogramme gewalttätige Verletzungen verhindern können. Noch aber reicht die Forschung nicht aus, um konkrete Ergebnisse abzuleiten, sagen Experten.
Richardson hofft darauf, mit seinem Programm die Datenlage zu verbessern. In den kommenden Monaten, sagt er, will er die größte randomisierte Studie über die Wirksamkeit von Interventionsprogrammen starten.
Geschichten wie die von J. King motivieren ihn.
Am Ende weinte King
T. J. King, 35 Jahre alt, wuchs nur wenige Blocks von Bullock entfernt auf. Er hing im Juni 2017 mit Freunden in der Nachbarschaft herum, als zwei Männer in einem Auto auftauchten und 56 Schüsse abfeuerten. Fünf Menschen wurden getroffen, darunter auch King.
Alle überlebten, aber die Verletzungen von King waren die schwersten. Eine Kugel durchbohrte seinen Rücken und trat an der Brust wieder aus, sie brach ihm zwei Rippen und traf fast seine Lunge und sein Herz. Nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus erhielt King einen Anruf von Bullock, er bat ihm, sich dem Programm anzuschließen.
“Ich sprach in dieser Gruppe darüber, was mit mir passiert war, und wie ich mich fühlte und was ich durchmachte”, sagt King. Noch nie habe er so offen über sein Leben gesprochen. “Ich bin danach nach Hause gegangen und habe etwa zwei Stunden lang geweint.”
Nur wenige Monate nach der Schießerei erlag Kings Mutter dem Krebs. Er blieb Teil des Programms und bekam schließlich einen Job im Krankenhaus, um Patienten zu transportieren.
Nichts davon war einfach, sagt King. Aber durch die Veränderungen habe er eine neue Leidenschaft für sein Leben entdeckt. “So wie sich bei mir alles zum Guten gewendet hat, so ist das auch bei jeder anderen Person möglich”, sagt King.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der HuffPost US und wurde von Leonhard Landes ins Deutsche übersetzt und editiert.