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Abas Ahmed Salih: Aus Versehen abgeschoben

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Im Juni berichtete die Autorin Dr. Katja Doubek in der Huffington Post über den Flüchtling Abas Ahmed Salih, der „aus Versehen" abgeschoben werden sollte. Wie es mit ihm und den Behörden weiterging, erzählt sie im folgenden Interview.

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Foto und Copyright: Abas Ahmed Salih

Frau Dr. Doubek, gibt es Neuigkeiten im Fall Abas Ahmed Salih?

Leider ist noch nicht wirklich etwas geschehen, aber dafür ist einiges passiert: Nach unserem letzten Gespräch habe ich mich mit meinem Onkel, Klaus von Dohnanyi, seinerzeit Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, über das weitere Vorgehen beraten. Er hat mir Mut gemacht, auf unseren Rechtsstaat zu vertrauen und mich an die zuständigen Stellen zu wenden:

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Ich habe sowohl an die Präsidentin des Bundesamtes für Migration, Jutta Cordt, als auch an den Bundesinnenminister Thomas de Maizière geschrieben, übrigens ohne den Namen von Dohnanyi zu erwähnen. Ich habe lediglich in Stichpunkten den Sachverhalt geschildert:

• Jan. 2016: Anhörung mit einem von Anfang an feindseligen Dolmetscher, den die Anhörerin sogar gerügt hat
• März 2016: Termin zur Sprachanalyse, der nach stundenlangem Warten ausfiel, weil es im Amt Probleme gab

• am nämlichen Tag die feste Zusage für einen neuen Termin
• stattdessen Anfang 2017 ein Bescheid, dass Abas das Land verlassen soll
• ein Bescheid, der auf einer angeblichen 2. Anhörung basiert, die jedoch nie stattgefunden hat

Dann habe ich die Herrschaften um Klärung gebeten.

Haben sie eine Antwort erhalten?

Erfreulicher Weise sogar zwei. Aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kam wenige Tage später eine sehr freundliche Mail, man werde der Sache nachgehen und sich melden. Die Antwort aus dem Bundesinnenministerium dauerte etwas länger, war dann aber ebenfalls sehr freundlich. Dort bat man mich um nähere Informationen und das Aktenzeichen, das ich nach Rücksprache mit Abas' Anwalt, Dr. Galli, weiter gegeben habe.

Gibt es weitere Reaktionen?


Aus dem Innenministerium habe ich noch nichts gehört - vielleicht waren und sind dort alle Kräfte mit dem G20 Treffen und den scheußlichen Vorfällen in Hamburg beschäftigt. Ich aber dieser Tage nachhaken. Mit dem Herrn vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge pflege ich einen leider eher unerfreulichen Mail-Kontakt.

Inwiefern?

Auf meine Aussage hin, dass es nur eine Anhörung am 21. Januar 2016 gegeben hat und Abas am 7. April 2017 überhaupt keinen Termin hatte, schrieb er mir:

„Wie Sie zutreffend mitteilten, hat lediglich eine Anhörung von Herrn Salih stattgefunden, nämlich am 21.01.2016. Aufgrund des Ergebnisses dieser Anhörung vom 21.01.2016 wurde die Entscheidung getroffen. Bei dem im Bescheid vom 13.05.2017 versehentlich zusätzlich aufgeführten Anhörungsdatum 07.04.2017 handelt es sich um ein Versehen."


Abgesehen davon dass ich die Begriffe versehentlich und Versehen im Zusammenhang mit einem so wichtigen Vorgang unstatthaft finde, stimmt das Ganze von vorne bis hinten nicht. Wie kann man denn „versehentlich" eine Anhörung erfinden, die es nicht gab und damit den Versuch einer Abschiebung begründen?

Und wie kann man den Fehler vertuschen zu wollen, indem man schreibt, die Entscheidung sei aufgrund der ersten Anhörung gefallen? Das ist nachweislich falsch, dafür gibt es einen eindeutigen Beleg: Abas Ahmed Salih hat einige Wochen nach der Anhörung vom 21.01.2016 eine Aufforderung erhalten, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für eine Textanalyse vorstellig zu werden.

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Copyright: Abas Ahmed Salih

Also kann die Entscheidung gar nicht aufgrund der ersten Anhörung stattgefunden haben. Wenn das so wäre, hätte es wohl kaum den Termin am 14.03 gegeben.

Sind ihnen die Namen der Verantwortlichen bekannt?

Ja, natürlich. Es gibt ein Protokoll der Anhörung aus München. Später hat jemand die Akte von Abas vorschnell und ohne Sprachanalyse von dort zur Außenstelle Diez nach Rheinland Pfalz geschickt und zur Entscheidung freigegeben. Dort hat jemand „versehentlich" einen Termin erfunden, den es nie gab, den Bescheid unterschrieben und versendet. Ganz zu schweigen von den Mails, die alle Absender haben... Wir haben kein Interesse daran, Einzelpersonen anzuschwärzen. Wir möchten, dass Abas Ahmed Salih als freier Mann ein freies Leben in einem freien Land, und zwar in Deutschland, führen kann.

Weshalb hat denn die Sprachanalyse nicht stattgefunden?

Wie zu seiner Anhörung, habe ich Abas auch zu diesem Termin begleitet. Leider mussten wir das Amt unverrichteter Dinge verlassen. Offensichtlich gab es im oberen Stock ernsthafte Probleme. Wir sahen einen Mannschaftswagen mit Polizisten vorfahren, die bewaffnet an uns vorbei die Treppe hinauf liefen. Parallel wurden alle Wartenden aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Ich habe vorher noch eine schriftliche Bestätigung gefordert, dass Abas anwesend war, damit er keine Schwierigkeiten in der Schule bekam. Außerdem holte ich mir mündlich die Zusage, dass der ausgefallene Termin zeitnah wiederholt werden würde. Darauf warten wir allerdings bis heute.

Stattdessen schrieb mir der Herr vom BAMF in Nürnberg:

„... danke für Ihre Antwort. Ich habe mich diesbezüglich bei der Außenstelle München erkundigt. Von dort wurde mir mitgeteilt, dass auf die Erstellung einer Sprach und-Textanalyse verzichtet wurde, da diese als wenig erfolgversprechend erschien. Der bei der Anhörung anwesende Dolmetscher hielt die Frage der Staatsangehörigkeit aus der Anhörung heraus für hinreichend geklärt."

Schlimm genug, dass dieser unqualifizierte Dolmetscher bereits während der Anhörung gerügt wurde. Die Anhörerin hat ihn wörtlich und von mir protokolliert aufgefordert: „Sie müssen mir schon vollständig übersetzen, was er sagt!" -

Wir wissen inzwischen, dass dieser Dolmetscher, der sich angeblich auch noch anmaßte, die Frage der Staatsangehörigkeit von Abas zu beurteilen, kein Wort Tigrinisch mit ihm gesprochen hat.

Mehr zum Thema: Diese vier Flüchtlingsfamilien zeigen, dass Integration an der deutschen Gesellschaft scheitert

In welcher Sprache hat er das Gespräch denn geführt?

Er hat nur Amharisch gesprochen. Dazu muss man wissen, dass Abas' Familie in Eritrea Tigrinisch gesprochen hat. Er war zwei Jahre alt, als er beide Eltern verlor und mit seiner achtjährigen Schwester nach Äthiopien gebracht wurde. Dort hat er im Laufe der Jahre natürlich die Landessprache Amharisch gelernt. Seine Schwester hat allerdings immer Trigrinisch mit ihm gesprochen.

Leider musste sie die „Pflegefamilie", in der die beiden lebten, unter dubiosen Umständen verlassen. Abas hat fünf Jahre versucht, sie wieder zu finden. Bedauerlicherweise vergeblich. Fakt ist jedoch, dass der Dolmetscher gar nicht versucht hat, Abas' tigrinische Sprachkenntnisse zu ermitteln.

Das ist kein Einzelfall! Ich habe dergleichen nicht für möglich gehalten, bevor ich es selbst erlebt habe. Diese Geschichten von „Wenn der Feind übersetzt" bis „Die Macht der Dolmetscher" ... ich konnte mir nicht vorstellen, dass es solche Menschen gibt. Aber es gibt sie - und zwar nicht nur auf dem BAMF - auch vor Gericht übersetzen sie zum Schaden der Geflüchteten und offenbar ganz besonders, wenn es sich um Geflüchtete mit Eritreischen Wurzeln handelt.

Gerade habe ich mit den engagierten Damen des Portals www.wirmachendas.jetzt einen Aufruf initiiert. Hier können Helfer, Betreuer und Betroffene in allen Sprachen Geschichten von unkorrekten Übersetzungen und deren Folgen berichten.

Was werden Sie jetzt tun?

Als nächstes werde ich beim Innenministerium nachfragen, zu welchen Ergebnissen deren Recherche geführt hat. Abas hat nämlich einen unterschriebenen Vertrag für eine Lehrstelle als Koch in dem renommierten und ausgezeichneten „Restaurant zum Luitpold". Die möchte er gerne antreten, aber solange dieser unsägliche Bescheid nicht revidiert ist, ist es leider nicht so einfach die Ausbildungserlaubnis zu bekommen. Das Ehepaar Keßler, die Eigentümer des Luitpold, haben ihm sogar ein Empfehlungsschreiben geschrieben. Sie möchten sehr gerne, dass Abas bald anfangen darf. Er ist fleißig. Er will arbeiten, und er ist beliebt im Team.

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Copyright: Carmen Heilmann-Hagen

Mehr zum Thema: Wenn wir Flüchtlinge uns integrieren, werden wir abgeschoben

Alle, die ihn kennen, schätzen ihn sehr. Sein Fußballverein, der FC Seestall, hat sogar eine Unterschriftensammlung für ihn organisiert. Die Mitglieder haben seitenweise unterschrieben, beeindruckend:

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Copyright: Abas Ahmed Salih

Wie wird es jetzt weiter gehen?

Das hängt wesentlich von der weiteren Entwicklung auf offizieller Seite zusammen. Wir werden immer entsprechend reagieren. Die Zahl unserer Unterstützer wächst. Es gibt viele Optionen, und wir werden ganz sicher nicht aufgeben.

Konkret ist es im Moment so, dass Abas wöchentlich einen Termin mit seiner Betreuerin, Carmen Heilmann-Hagen, und mir hat. Wie sie habe auch ich einen psychologisch ausgebildeten Hintergrund. Wir arbeiten mit Abas sehr intensiv daran, verschüttete oder überlagerte Erinnerungen an die Vergangenheit frei zu legen.

Abas ist sehr mutig. Er stellt sich unseren Fragen und damit einer ganzen Reihe von Ereignissen, die er vielleicht lieber vergessen würde. Es sind viele kleine Mosaik-Steinchen, die da zutage kommen und allmählich zu einem ganzheitlichen Bild werden. Das Bild eines starken, tapferen jungen Mannes aus Eritrea, der Ruhe und Frieden für seine geschundene Seele sucht. Wir tun, was in unserer Macht steht, ihn dabei zu unterstützen. Und wenn wir wirklich in einem Rechtsstaat leben, auf den man sich verlassen kann, wird dieser Rechtsstaat Abas Ahmed Salih das Leben ermöglichen, für das er so viel auf sich genommen hat und das er verdient.

Zur Person:

Dr. Katja Doubek ist die Tochter des Dirigenten Christoph von Dohnányi. Ihr Großvater war der Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyí (hier wie bei Klaus ohne Akzent geschrieben). Der lutherischer Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer war der Bruder ihrer Großmutter. Bereits während ihres Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie arbeitete sie als freie Autorin für die FAZ und nach dem Abschluss als Redakteurin beim ZDF. Sie absolvierte ein Psychologiestudium und veröffentlicht seit Anfang der 90er Jahre Sachbücher und Belletristik u.a. bei Bertelsmann, Piper und Rowohlt. Sie lebt in München und Italien.

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Satirischer Rückblick: Frauen in Film und Fernsehen benachteiligt

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Die abgelaufene Woche war voller Meldungen.

Eine Tatort-Kommissarin hat eine Studie vorgestellt, der zufolge Frauen in Filmen benachteiligt sind, weil sie die Figuren spielen, um die es geht, wogegen die Männer die Protagonisten sind. Noch schlimmer ist es in der Branche allgemein, da sind die Frauen meistens darauf festgelegt, Studien zu präsentieren, wie benachteiligt die Frauen sind. Auch in der echten Polizei geht es diskriminierend zu; die Polizistinnen müssen sich passiv beschimpfen lassen von Männern, denen unsere Werte noch nicht bekannt sind.

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Putin meinte nach dem persönlichen Treffen, Trump wäre gar nicht so, wie er im Fernsehen wirkt. Da geht es Putin wie den meisten Wählern, die nach dem Bild, das sie aus dem Fensehen haben, entscheiden, wen sie bei der Wahl unterstützen.

Thomas Gottschalk kommt mit einer neuen Wetten-dass-Show ins ZDF. Man ist gespannt,ob er es diesmal schafft, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu finden.

Es gibt mehr Reichsbürger als angenommen in Deutschland. Wenn es so viele sind, dass sie eine wirkliche politische Macht darstellen, erkennt man das daran, dass DIE ZEIT sich wieder in ihren vorigen Titel zurück umbenennt.

VW löst Daimler als DFB-Sponsor ab. Die Mannschaft wirbt für Das Auto. Für die Beschäftigten von VW hat das den Vorteil, dass der Betriebsrat für Verhandlungen über Sozialpläne zu den wichtigen Länderspielen eingeladen wird.

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In Deutschland wird es eine Million Schüler mehr geben als bisher in den Planungen angenommen. Das sind dann aber wieder so viele, dass in den Schulklassen Lehrer sowieso überflüssig sind und gleich ganz eingespart werden können.

Merkel hat Entschädigung für die Opfer der G20-Krawalle zugesagt. Das gibt es nur im Kapitalismus, dass der Staat für die Schäden aufkommt, die seine Gegner angerichtet haben.

Martin Schulz hat das Hamburger Schanzenviertel besucht. Im Wahlkampf muss er als Linker eben auch zu denen, die nichts mit links zu tun haben.

Mehr zum Thema: Ein Talkgast bei Maischberger beweist Standfestigkeit


Er wurde mit „Verpiss dich, du Bauer!" beschimpft. In diesen Kreisen ist das schlimmste Schimpfwort ein produzierender Beruf mit körperlicher Arbeit.

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Die Einheit der CDU - Die Parteiführung und die Gründung des Freiheitlich-Konservativen Aufbruchs

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In der Präambel des Grundsatzprogramms der CDU steht geschrieben:
die CDU ist die Volkspartei der Mitte. In ihr sind auch heute die politischen Strömungen lebendig, aus denen sie nach 1945 entstanden ist: die christlich-soziale, die liberale und die wertkonservative.
In neuerer Zeit wird immer wieder der Vorwurf laut, die CDU habe Teile ihres Markenkerns aufgegeben, sogar von einer „Sozialdemokratisierung" während der Kanzlerschaft Angela Merkels ist immer wieder die Rede.

Tatsache ist, dass die CDU in den letzten Jahren ihre Position in vielen Punkten geändert hat, sei es die Wehrpflicht, beim Thema Einwanderung oder jüngst beim Thema der gleichgeschlechtlichen Ehe. All das waren konservative Bastionen. Nun könnte man darauf sicherlich reagieren, indem man darauf verweist, dass sich manche Gesellschaftsbilder im Laufe der Jahre verändern und dementsprechend auch Konservative bereit sein müssen, bis zu einem gewissen Grade dem Fortschritt zu folgen. Außerdem kommt hinzu, dass die Neuausrichtung unter Merkel zwar bei den Konservativen auf Protest gestoßen ist, insgesamt aber neue Wählerschichten in der Mitte erschlossen hat und den Stimmenanteil damit nicht geschmälert hat. Wegen schlechter Wahlergebnisse wird man Angela Merkel nicht vertreiben können.


Die Gründung des FKA ist zu begrüßen

Für die Union hat sich aber dennoch das Problem ergeben, dass sich rechts von ihr eine neue Partei möglicherweise etablieren könnte, die AfD. Und hierbei liegt die Ursache mit Sicherheit in der Neuausrichtung der CDU, bei der eine der oben genannten Ausrichtungen vernachlässigt wurde. Dem wollen zahlreiche Parteimitglieder nun entgegenwirken. Im März gründeten sie den „Freiheitlich-Konservativen Aufbruch" (FKA), inzwischen „WerteUnion - Freiheitlich-Konservativer Aufbruch".

Die Gründung des FKA ist zu begrüßen. Es ist positiv, wenn sich das Konservative in der CDU wieder mehr durchsetzt. Dies scheint man jedoch in der Partei nicht unbedingt zu teilen. Zu gegensätzlich wirken die eigene Rechtfertigung, die der FKA zur Gründung vorgebracht hat und die Reaktionen aus der Parteiführung.

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Zu Recht sagt der FKA von sich, man wolle „enttäuschte Unionswähler der ‚rechten Mitte' zurückgewinnen, etwa von der AfD", wie es in der Rheinischen Post zitiert wird. Die Strategie solle sein, dass Wahlprogramm nach Rechts zu verschieben, mehr Asylpolitik, innere Sicherheit und Kritik am Islam. Auf dem Gründungstreffen im Frühjahr wurde betont, dass man sich nicht als Splittergruppe sehe, sondern als positive Kraft. „Wir wollen, dass die CDU ihre Politik anpasst", wie der neue Vorsitzende des FKA, Alexander Mitsch in der Epoch Times zitiert wird.

Eine Volkspartei muss Spannungen aushalten

Von Seiten der CDU blieb die Gründung nicht unkommentiert. Angela Merkel persönlich warnte davor, die Parteiströmungen sollten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Thomas Strobl, CDU-Vize, mahnte, „Nicht maulen, machen". Mit seiner Aussage, „das Gemeinsame steht über dem Trennenden - geschlossen und entschlossen schaffen wir das" positioniert er sich allerdings ähnlich wie die Kanzlerin. Man solle sich durch eine neue Kraft nicht vom Kurs abbringen lassen. Auch Wolfgang Schäuble äußerte sich ähnlich, „eine Volkspartei müsse Spannungen aushalten".

Auch wenn - laut dem FKA-Vorsitzenden Mitsch - die Skepsis der Parteiführung verständlich sei und es nun Aufgabe des FKA sei, auf die CDU-Spitze zuzugehen, so merkt man doch die Spannungen. Eine neue interne Parteigruppe gründet sich und will mitgestalten und natürlicherweise den politischen Kurs verändern oder zumindest anpassen. Die Führung will das nicht, da sie den aktuellen - eher liberalen - Kurs herbeigeführt hat und beibehalten möchte. Außerdem hat sie - zumindest aktuell - damit politischen Erfolg. Man ist wieder bei dem Problem vom Anfang, den drei Säulen aus dem Parteiprogramm, die die CDU ausmachen.

Mehr zum Thema: Schulz stellt "Zukunftsplan" vor - doch dabei gibt es ein Problem


In seinem Buch Macht und Machtverlust - Die Geschichte der CDU schreibt der Historiker Frank Bösch, dass sich „die Christdemokraten" „nicht gradlinig zu einer ‚modernen Volkspartei'" entwickelten.
Altes und Neues wechselten sich ab, überlagerte sich und ragte oft zur Unzeit wieder unerwartet hervor. (...) In vielen Bereichen profitierte die Union von den machtvollen Traditionsüberhängen ihrer Geschichte. Zugleich waren diese immer wieder eine Last, wenn sie sich um Reformen bemühte. Unbeweglich war die Union sicher nicht. Trotz ihres eher konservativen Partei-Images verstand sie es immer wieder, sich an gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen.



Das aktuelle Problem, dass sich mangelnde Repräsentanz bestimmter Gruppen mit einem Kurs der Parteiführung, der auch auf der gesellschaftlichen Entwicklung basiert, in die Quere kommt, ist also bei der CDU gar nicht so neu. In der Geschichte der Bundesrepublik musste sich die Partei immer wieder damit auseinandersetzen, zugrunde gegangen ist sie daran nie.

Der Politologe Wolfgang Seibel äußerte bei der Gründung des FKA im März die Meinung, die CDU könne durch die Gründung insgesamt Schaden nehmen. Die Diskussion über heikle konservative Themen sei bisher immer ruhig verlaufen, so sei es für die CDU immer glimpflich verlaufen. Die Gründung selbst sei nur ein Reflex. Damit könnte Seibel allerdings deutlich falsch liegen. Wie erwähnt, hat die CDU ähnliche Modernisierungsdebatten erlebt, wie aktuell. Der große Unterschied zu den früheren Debatten ist die mögliche Etablierung der AfD. Trotz aller Debatten war die CDU immer die konservative Partei der Republik und das könnte sich jetzt - zumindest in Teilen - ändern.

In der CDU sollte es wieder mehr Debatten geben

Selbstverständlich ist unter Angela Merkel der konservative Flügel vernachlässigt worden. Ganze konservative Themen wurden aufgegeben, etwa die Wehrpflicht oder die Kernkraft. Es soll an dieser Stelle gar keine Debatte darüber geben, ob dies im gesellschaftlichen Wandel richtig oder falsch war. Es soll nur die Feststellung gemacht werden, dass Merkel zu sehr jene bekämpft hat, die diese konservativen Themen vertreten haben und jetzt u. U. mit der CDU hadern oder sogar in der AfD ihre neue Heimat finden. Merkel hat damit ohne Frage der Partei und auch der politischen Landschaft einen Schaden zugefügt.

Die CDU wird auch in Zukunft über politische Themen streiten und diskutieren, ob man sich mit der wandelnden Gesellschaft mit bewegt oder - wie in vielen Fällen zu Recht - auf das Bewahren setzt. Liberale wie Konservative müssen und werden es aushalten, dass es in einer Volkspartei unterschiedliche Meinungen gibt, so will es bekanntlich auch das Grundsatzprogramm. Und jede Seite wird sich auch von Zeit zu Zeit damit abfinden müssen, dass ihre Meinung nicht zum Zuge kommt. Wichtig ist, dass auch die Konservativen eine Plattform haben, damit es für jede Meinung entsprechende Vertreter geben kann. Was der Wähler nicht mag, ist Streit, ein parteiinterner Konflikt. Von daher sollte auch für die Konservativen die Devise gelten: Nicht gegen Merkel, aber für die Artikulation der eigenen Positionen. In der CDU sollte es wieder mehr von den Debatten geben. Nur wenn alle Flügel der Partei zusammenhalten, ihre Positionen zwar ausdiskutieren, sich aber nicht zerstreiten Nur dann wird die Partei stark sein. Schließlich ist die CDU eine liberale, christlich-soziale und konservative Partei.

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Die Zukunft von Unternehmen steckt in Neuro-Tools

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Ob on- oder offline - Unternehmen müssen sich stets so positionieren, dass sie einen Wettbewerbsvorteil haben und ausbauen können. Ansonsten gehen sie in der Masse unter.

Neulich sagte ein Unternehmer zu mir: „Wir machen nix anderes, als andere Agenturen auch."

Puh.

„Was glaubst Du, wo Deine Agentur in - sagen wir mal - 5 Jahren steht?"

„Mein Ziel ist es schon zu wachsen."

„Warum?"

„Wie warum?"

„Ok. Ein Schritt zurück. Wie möchtet Ihr als Agentur wachsen?"

„So genau weiß ich das noch nicht. Uns fehlt noch so die zündende Idee."



Als Unternehmer musst Du raus aus der Operativen, damit Du an Deinem Unternehmen arbeiten kannst. Und wenn es täglich nur 30 min sind.




Veränderungen im Unternehmen - dazu gibt es einige mehr oder weniger sinnvolle Change-Modelle. Doch richtig gutes Change Management beginnt immer mit einer Idee. Erst dann kommt alles andere. Unternehmen müssen heute mehr denn je in der Lage sein, innovative Ideen zu entwickeln. Die Gefahr wird einfach immer größer von den „neuen Unternehmern" vom Markt verdrängt zu werden.



Denken wir doch nur mal an das Bäckerhandwerk. Heute ist es Usus, dass sich Kunden vom Discounter im Backshop ihre Brötchen holen können. Selbst bei der Tankstelle gibt es sonntags „frisch" aufgebackene Brötchen. Dann beginnt der Preiskampf. Den kann der Bäcker im soliden Handwerk nur verlieren.



Nüchtern betrachtet -welch´ geniale Idee: Wir bieten Kunden etwas in unserem Shop an, so dass sie nicht mehr in einen anderen Shop müssen (Selbst der Non-Food- Bereich ist ja schon im Lebensmittel-Einzelhandel zu finden). Wer ein langes Gesicht macht, sind die Handwerksbäckereien, die noch nach guter alter Tradition zu fairen Preisen hochwertiges Gebäck anbieten. Und nur noch auf die Stammkundschaft hoffen.



Und warum das ganze Dilemma? Weil sie es nicht selbst waren, die diese Idee hatten.

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Der Tod eines jeden Unternehmens steckt in der Zufriedenheit.



Zufriedenheit löst Trägheit aus. Alles ist gut so, wie es ist. Es läuft ja. Die Kunden kommen. Irgendwie. Hat ja immer irgendwie geklappt.

Bis einer mit einer neuen Ideen kam, sich einfach umsetzte und die Kunden mitnahm.



Viele Unternehmen scheitern genau an diesem Punkt. Sie versinken in der Operativen und lassen die Mitbewerber gnadenlos an ihnen vorbei ziehen.

Die meisten können sich nicht vorstellen, wie die Zukunft aussehen könnte. Sie gehen einfach mit dem, was kommt und re-agieren auf die Gegebenheiten.



Sie können sich eine andere Zukunft aber nur deshalb nicht vorstellen, weil sie sich nicht ausreichend Zeit dafür nehmen und auf die zündende Idee unter der Dusche warten.


Dabei ist es mit den richtigen Tools für jedermann möglich, innovative Ideen zu entwickeln.



Gute Ideen entwickeln wir meist im Dialog mit anderen Menschen und einem Raum, der ansprechend ist und zum freien Denken einlädt. Dazu bietet es sich an, dass man völlig ablenkungsfrei effektiv arbeiten und denken kann. Viele Unternehmer wählen deshalb auch Settings außerhalb ihrer eigenen Räumlichkeiten. Wer Ideen aktiv entwickeln möchte muss sich dafür ausreichend Zeit und Ruhe geben.



Nun aber zu den Modellen. Für heute haben wir vier Stück mitgebracht, die wir vorstellen möchten. Sie haben sich in der Praxis mehrfach bewährt und sind auch meist ohne fachliche Anleitung gut durchführbar:



2 Punkt Modell

Das Modell dient der strukturierten und dennoch freien Ideenfindung. Hierzu werden divergierendes und konvertierendes Denken als die zwei führenden Punkte kombiniert:

Unter dem Punkt des divergierenden Denkens werden zunächst wahllos Ideen in den Raum wertfrei gestellt und gesammelt. Hier kommt Masse vor Klasse. Es geht darum möglichst außergewöhnliche und verrückte Ideen zu sammeln. Diese Sammlung wird dann mit bestehenden Elementen aus dem bestehenden Unternehmensprozessen verbunden, so dass oftmals kreative Lösungen entstehen.

Mehr zum Thema: Mit Crowdinvesting kann jeder Innovationen fördern

Bei Punkt 2 - dem konvertierenden Denken - werden auf alle Ideen und Verknüpfungen positive Beurteilungen angewendet. Das verhindert das „Das-ist-neu-das-kann-nicht-gehen-Phänomen". Erst im Anschluss wird sollte nun bewusst und überlegt überprüft. Immer wieder muss hier auch das Ziel konsequent ins Blickfeld genommen werden.

Auf diese Auswahl an Ideen wird nun mit der Innovationsbrille geschaut, um zu prüfen, wie der Neuigkeitsfaktor ist. Nach dem Abnicken kann die Idee nun ausgefeilt werden.

Der Vorteil dieses Modells ist, dass man strategisch-kreativ vorgeht und die Hirnzellen zur Innovation gezwungen werden.

Hierfür bieten sich mehrere Leute an, die im Sparring sich die Ideen zuwerfen. Gut ist einen Moderator dabei zu haben.





Inside-The-Box

„Think outside the box" - ein wunderbarer Trend, der nur wenig funktioniert, wenn mehrere Menschen in einem Unternehmen beschäftigt sind [Inside the Box: A Proven System of Creativity for Breakthrough Results].

Bei dem Modell Inside-The-Box wird bewusst in Schubladen (eng gestrickter Rahmen und Beschränkungen) gedacht, um die Mitdenker zu zwingen, weniger abstruses oder unbenutzbares Material zu generieren. Das kann in größeren Firmen eine wirkliche Hilfe sein, wenn Entscheider, Rahmenbedingungen usw. zu völlig freien Ideen blockieren. Für die Mitarbeitermotivation ein extrem hilfreiches Modell, weil es die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, dass die Ideen umsetzbar gemacht werden. Innerhalb des eng gesteckten Rahmens, werfen sich die Teilnehmer Ideen zu und entwickeln gemeinsam Strategien und neue Innovationen.

Der Vorteil liegt in der enormen Fokussierung. Der eng gestrickte Rahmen und dessen Beschränkungen sorgen automatisch für einen effektiven und durchaus kreativen Ablauf. Es ist keine weitere Anregung nötig und entwickelt sich nach kurzer Zeit zum Selbstläufer.

 



Der 6 Step Circle

Ein Allround-Modell, was es dem Unternehmer ermöglicht, sich stets selbst zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Bevor es an das eigentliche Ideen-Sammeln geht, ist dieses Modell einzusetzen, damit die Ideen den richtigen Rahmen bekommen.

Der 6 Step Circle setzt in der Ist-Ananlyse an, dem so genannten Screening und geht dann direkt in die Ursachenforschung, dem Assessment. Das Assessment wird extrem genau betrieben. Ähnlich wie bei der SWAT-Analyse werden Ressourcen (materiell, personell, Umfeld usw.) und Herausforderungen (Rahmenbedingungen, Risiken, Voraussetzungen usw.) gelistet. Erst im vierten Schritt werden die Ziele smart gesetzt. Aus allen Ergebnissen werden nun Maßnahmen entwickelt (hier kann nun ein weiteres Neuro-Modell eingesetzt werden). Nach der Durchführung kommt der letzte, aber entscheide Schritt, die Evaluation und ggf. Modifikation.

Das Modell hat den Vorteil, dass die Maßnahmen nicht aus den Problemen selbst, sondern aus den Ursachen heraus entwickelt werden können. Ebenso setzt es nicht nur aus der Unternehmersicht an, sondern berücksichtigt Mitarbeiter- und Kundenbedürfnisse und kann sich individuell für den Markt einsetzen. Super easy - super effektiv.

Mehr zum Modell 6 Step Circle gibt es hier - speziell für Gründer geschrieben. 


Mehr zum Thema: Mit Kreislauf zum Vorbild - der Weg zu einer nachhaltigeren Wirtschaft


Denk-Arten-Modell

Wer strukturiert in der Gruppe denken mag, für den ist dieses Modell perfekt geeignet. Es dient dazu, bereits entstandene Ideen auf den Prüfstand zu stellen.

Das Modell geht davon aus, dass eine Idee nur dann wirklich erfolgreich ist, wenn sie von sieben Menschentypen abgesegnet und durchgekaut wurde:

Der visionäre Denker: Er kann in Bildern denken und hat eine lebhafte Vorstellung, wie ein Ergebnis aussehen könnte.

Der diagnostische Denker: Dieser Typ muss erstmal alles genau untersuchen, beschreiben und planerisch vorgehen.

Der Stratege: Er sieht sofort Critical Points, die einem erwünschten Ergebnis im Weg stehen.

Der Ideen-Denker: Er ist für das Originelle zuständig und hat die Fähigkeit in Lösungen und Innovation zu denken.

Der bewertende Denker: Er ist sehr sachlich und bewertet Ideen nach ihrer Qualität und ihrer Umsetzbarkeit.

Der Kontextuelle: Er sieht und versteht Prozesse und Zusammenhänge und hat das große Ganze immer im Blick. Er sieht, wo Schnittstellen sind und an welchen Stellen es haken kann.

Der Taktiker: Ihm gibt man den Auftrag einen Plan zu entwickeln, dessen Schritte messbar sind und übergibt ihm den Job, den ganzen Prozess zu überwachen, damit am Ende auch ein effektives Ergebnis bei raus kommt. [Ihm überträgt man auch am besten das Protokollführen. Psssst!]



Jedes Modell ist nur so gut, wie der kreative Mensch dahinter.

Puh. Gut zu wissen, dass Kreativität etwas ist, was angeboren ist und mittels der richtigen Methodik, bei jedem Menschen volles Potential zeigen kann.

Der kreative Prozess kann unter der Dusche passieren (Let it happen) und genauso aber absichtlich und bewusst herbeigeführt werden (make it happen). Das Entwickeln von innovativen Ideen ist für jeden möglich.

Rhodes hat dazu wunderbar die Prozesse, die hinter kreativen Ideen stehen, analysiert und folgendes daraus gezogen:

Die Schnittmenge aus Person, Prozess und Klima lässt das Produkt der Kreativität entstehen.

Sie wollen für Ihr Unternehmen innovative Ideen entwickeln? Dann sorgen Sie dafür, dass die richtige Person, mit der richtigen Haltung den Raum und das richtige Modell an die Hand bekommt, so dass sie extrem wertvolle Ideen für Ihr Unternehmen generieren kann. [Hier lesen Sie weiter zum 4P-Modell von Rhodes]

Mit anderen ambitionierten Unternehmern einen ganzen Tag lang innovative Ideen entwickeln und die Zukunft selbstbestimmen: Mastermind Workshop 

 

Important Point

Unternehmen müssen sich dauerhaft evaluieren und neue kreative Ideen entwickeln
Nur durch stetige Innovation ist Wettbewerbsvorteil möglich
Mit den richtigen Methoden und Tools an der Hand, ist jedem kreatives Denken möglich
Im Team denkt es sich besser
Die richtige Idee kommt immer vor dem Change Management

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Lesenswert:




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Darum betrügen Unternehmen - ein Erklärungsversuch

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Warum eigentlich betrügen Unternehmen? Immer und immer wieder hört man und lernen die Studierenden, dass man den Kunden, den Konsumenten auf keinen Fall übervorteilen darf. Und zwar nicht aus moralisch ethischen Gesichtspunkten heraus, sondern weil dem Unternehmen ein solch großer Imageschaden droht, dass es sich davon wirtschaftlich kaum erholen kann, ja unter Umständen sogar die Insolvenz drohen soll.

Traurig genug, dass anscheinend nur die betriebswirtschaftliche Logik vom Betrügen abhalten soll. Vom allgemeinen Recht wird kaum, von der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gar nicht gesprochen. Sei es drum, trotzdem betrügen Unternehmen ihre Kunden - warum nur?
Anscheinend schreckt selbst eine mögliche Insolvenz nicht ab - aber warum?


Weil die Unternehmen anscheinend ganz einfach eine Lernkurve durchlaufen haben.
Auf mögliche Kartellstrafen angesprochen erklärte mir ein Vorstand seiner Zeit, dass die Strafe „aus der Portokasse" bezahlt werden würde und das Geld schon längst bilanziell zurück gestellt sei. Das war allerdings zugegebener Weise noch in einer Zeit, als man auch Bestechungsgelder ganz offen betriebswirtschaftlich verbuchen, also absetzen konnte. Da war der Grenznutzen des Betrugs noch deutlich positiv und damit quasi eine logische Konsequenz. Selbst die staatliche Repression des Betrugs ließ das Ergebnis unter dem Strich positiv erscheinen. Mittlerweile sind die Kartellstrafen derart angestiegen und durch die Kronzeugenregelung so unsicher geworden, dass es sich kaum noch lohnt; und dennoch lesen wir in kurzen Abständen immer wieder von Kartellstrafen, sei es in Investitionsbereichen wie Eisenbahnschienen oder Leitplanken oder im Konsumbereich bei Fleischherstellern oder Bierbrauern. Der Marktdruck scheint so stark, dass der Kartellverstoß einfach zu verlockend scheint.

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Ein anderer Grund aber scheint der Hauptgrund zu sein, warum eben auch bei hohen Geldstrafen der Betrug so lohnend erscheint. Bestes Beispiel ist „Diesel-gate", der Skandal der Abschaltsoftware bei Prüfzyklen durch Volkswagen.


Der Traum der weltweiten Marktführerschaft von VW schien ausgeträumt, auch wenn der menschliche Geist und vor allem derjenige des Durchschnittsverbrauchers sehr schnell vergesslich wird. Es wird erzählt, dass die VW-Mitarbeiter auf Branchenkonferenzen geradezu „zu schweben schienen". Ein freundlicher Ausdruck für zur Schau gestellte Arroganz, mit der es nun vorbei sein dürfte. Oder auch nicht, was die Auftritte des neuen Vorstandsvorsitzenden zeigen. Hier wird Herr Müller (Vorstandvorsitzender) zitiert, dass Volkswagen „Selbstbewusst" sei, kein Anzeichen von Reue oder gar Demut. Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl sind eine notwendige Eigenschaft einer erfolgreichen Führungskraft. Diese zur Schau zur stellen zeugt allerdings von der Abwesenheit anderer, maßgeblich wichtiger charakterlicher Voraussetzungen. So wurde der im April 2016 erfolgte Vergleich mit der amerikanischen Regierung noch als großer Erfolg im Haus VW gefeiert.

Da sowohl die deutsche Regierung, als auch die deutschen Gerichte als wesentlich unternehmerfreundlich in dieser Angelegenheit angesehen werden wird es spannend zu beobachten, wie die betrogenen deutschen Kunden behandelt werden und vor allem wie lange diese brauchen um zu vergessen und zu verzeihen. Im Moment sieht es so aus, als ob das Vergessen nach wenigen Monaten bereits eingesetzt hat. Volkswagen feiert für 2016 Rekordgewinne und Rekordabsatzzahlen. Zur Belohnung feiert man am 29. Mai 2017 den 70. Geburtstag des verantwortlichen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn mit allen Größen des VW-Konzern; „wie in alten Zeiten" habe man gefeiert , war zu vernehmen. Im Juli dann erklärt man stolz, VW wird Sponsor der deutschen Fußball Nationalmannschaft, für läppische 30 Millionen Euro. Lapidar verkündete Volkswagen zuvor, dass europäische Konsumenten auf keine Fall auf Entschädigung hoffen können. Es sei alles nach geltendem Recht verlaufen. Da möchte man doch glatt alle Publikationen zum mündigen Verbraucher in die Tonne kloppen. Es ist vielleicht der Erklärungsansatz dafür, warum Unternehmen betrügen:
Es zahlt sich einfach aus. Der durchschnittliche Verbraucher ist vielleicht einfach zu blöd, um solche Unternehmen nachhaltig zu sanktionieren.
Da sollte erst ein kleines Kurstoffröhrchen für weniger als sieben Euro den Wagen heilen. Vor kurzem (ein Jahr nach dem USA-Vergleich) nun heißt es, dass ein Software-update reiche. Hallo? Ein einfaches Software-update? Warum nicht gleich diese Software? Hätte dem VW-Konzern schätzungsweise bis dato knapp 30 Milliarden Euro gespart! Für wie blöd halten die uns eigentlich!?

Da rennen die Verbraucher auf die Straße und demonstrieren gegen das Handelsabkommen mit der USA „TTIP". An dieser Stelle sei angemerkt, dass die amerikanischen Verbraucher Milliardensummen als Entschädigung zurück erhalten. So schlecht kann der Verbraucherschutz á la USA also gar nicht sein!

Nein, wir protestieren gegen TTIP und halten VW die Treue. Sorgen sogar dafür, dass 2016 ein „Rekordjahr" für VW wurde.

Liebe Verbraucher, Konsumenten, Kunden, wie ihr euch auch immer selbst bezeichnet: Selbst schuld! Ihr werdet weiterhin betrogen, weil ihr einfach zu blöd seid, um euch zu wehren. Entschuldigung für diese „political uncorrectness", aber die ist ja angeblich eh tot.

Und dabei wäre es so einfach sich nicht verarschen zu lassen. Der Markt aller Produkte ist gesättigt. Das heißt es gibt immer ein Substitut, immer ein gleichwertiges anderes Produkt. Nur wenn wir alle bedingungslos betrügerische Unternehmen boykottieren und ihnen keine Produkte mehr abnehmen wird diese Art der Gewinnoptimierung aufhören. Aber ich kenne Firmen, die gegen Daimler Benz wegen überteuerter LKW-Preise klagen (noch so ein Kartell) und gleichzeitig wieder Laster von dieser Firma bestellen.
Die Menschen beklagen die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und gehen gleichzeitig bei IKEA einkaufen. Einem Unternehmen, dass seit Jahrzehnten durch geschickte innerbetriebliche Verrechnungen quasi keine Steuern zahlt. Da sitzen sie dann, die Menschen auf ihrem süßen „Knut"-Sofa (oder so ähnlich) und verteufeln den Staat, weil er ihnen finanziell nicht unter die Arme greift, nachdem der Konsument dem Staat durch seinen IKEA-Einkauf die Arme erst abgeschlagen hat.
Es gäbe unzählige weitere Beispiele. Vielleicht denkt manch einer gerade deshalb „Ich kann eh nix tun!" Mit dieser Einstellung wird aber alles immer schlimmer werden!
Es ging um einen Erklärungsversuch und er lautet: Unternehmen betrügen weil es dem Kunden ganz offensichtlich egal ist. Und wenn der Aufschrei einmal da ist schwillt er genauso schnell wieder ab.

Mehr zum Thema: Die Zukunft von Unternehmen steckt in Neuro-Tools


Vielleicht wäre wissenschaftlich einmal eine Langzeituntersuchung zum „Konsumenten-Verblödungs-Faktor", dem „KVF", hilfreich. In der ersten Stufe ist dieser ganz einfach zu ermitteln: Man nehme eine Kennzahl, im Fall von VW zum Beispiel die Umsatzerlöse nach dem Skandal und dividiere diese durch die Umsatzerlöse vor dem Skandal. Umso größer dieser über der „1" liegt, umso größer die Verblödung der Konsumenten. Quotienten unter „1" bedeuten, dass die Konsumenten etwas gelernt hätten. Keine Sorge, wahrscheinlich errechnen die Skandalkonzerne diese Zahl seit Jahren. Anders wäre ihre Politik nicht zu erklären. Bei VW sieht die Zahl übrigens so aus: Umsatz in 2016 = 217.267 Mio. und Umsatz in 2014 = 202.458 Mio. (Quelle: Statista); ergibt einen KVF von 1,073, also ziemlich verblödet (alles über 1,1 gehört in die Gruppe „pathologisch"). By the way: Mitte Juli hießt es, dass Porsche bei seinen Dieselmotoren etwas ganz neues auf Lager hat, eine Schummelsoftware im Getriebe. Und Audi (Markenwerbung: „Vorsprung durch Technik") verbaut Kolbenringe, die dem technischen Stand vor 30 Jahren entsprechen und dafür sorgen, dass ein Fahrzeug 2 Liter Öl auf 1.000 km verbraucht. Abhilfe auf Kundenkulanz? Fehlanzeige!
Neben allen rechtlichen Möglichkeiten und moralischen Ermahnungen hilft nur eines: Konsumentenboykott. Bitte mal drüber nachdenken! Es bleibt spannend.

Der Artikel ist in Teilen ein Auszug aus einem Buch, das vom Autor in diesem Jahr herausgegeben wird.

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Wer glaubt autonomer Linksextremismus ist ein Phänomen der Großstadt, der irrt gewaltig

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Nach den Krawallen am Rande des G20-Gipfels in Hamburg streiten Politik und Gesellschaft um den richtigen Umgang mit gewaltbereiten Linksextremismus.
Als Austragungsorte linker Gewalt gelten große Innenstädte wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Bremen oder Leipzig, wo sich im Umfeld sogenannter „autonomer" oder „alternativer" Zentren militant-aggressive Milieus etablieren konnten.
Wenn nicht gerade über eskalierende Proteste in der Nähe von Atomkraftwerken oder Braunkohlerevieren berichtet wird, könnte der Eindruck entstehen der ländliche Raum zähle überhaupt nicht zum Aktionsraum der linksextremen Szene - ein Trugschluss.
Bereits interaktive Nachrichten- und Kommunikationsplattformen der linksextremen Szene wie „linksunten.indymedia" sind für sich bereits ein geeignetes Instrument zur Vernetzung und Mobilisierung gewaltbereiter Einzelpersonen oder Gruppen an mehr oder weniger stark zugänglichen Orten europaweit.
Der G20-Gipfel in Hamburg und der G8-Gipfel im abgeschiedenen Heiligendamm im Juli 2007 zeigen dies eindrucksvoll. Der organisierte Linksextremismus versteht sich in der Tradition von „grassroot work". Die klassische Basisarbeit erledigen Bündnisse, Organisationen und Formen der Vernetzung, um jegliche „Freiräume" auf dem Land oder in der Stadt zu erobern - mit teilweise bemerkenswerten Fortschritten.

Der Kampf um „Kieze und Freiräume"

Dass heute ländlich geprägte Regionen eher als Hochburgen und Rückzugsräume von Rechtsextremen oder sogenannten „Reichsbürgern" gelten, ist bereits vor dem Hintergrund des ideologischen Ursprungs der linksextremen Bewegung in Deutschland eine überraschende Entwicklung.
Der Maoismus als eine der einflussreichsten kommunistischen Strömungen, der auch die westdeutsche Studentenbewegung ab 1967 beeinflusste, sah die ländliche Bevölkerung und nicht das städtische Arbeitermilieu als Quelle für politische Umstürze an.
Die Mao-Taktik schrittweiser Machteroberung durch einen zersetzenden Guerillakrieg aus dem Hinterland wurde in der alten Bundesrepublik durch die Rote-Armee-Fraktion in den Untergrundkampf der Stadtguerilla umgedichtet.
Auch in der Nachkriegszeit blieben die Großstädte die geistig-kulturellen Herzkammern der Gesellschaft und inspirierender Nährboden für diverse Formen menschlichen Zusammenlebens.
Die zunehmende Verstädterung beschleunigt diesen Prozess und erzeugt umgekehrt Verdrängungseffekte. Am politischen Kampf linker Extremisten um „Kieze und Freiräume" außerhalb jeglicher urbaner Subkulturen hat sich nichts geändert.

Breite Bündnispolitik als Lokalstrategie

Verdrängung beflügelt nicht nur den extremen Geist des organisierten Widerstands, sondern zwingt die Szene zur überregionalen Mobilisierung und Vernetzung mit Gleichgesinnten.
Es gilt das Überleben als „treibende Protestkraft" nachhaltig zu sichern.
Linke Allianzen wie die „Interventionistische Linke" oder das kommunistische Bündnis „...ums Ganze!", die eine mehr oder weniger für die Öffentlichkeit transparente Nähe zur autonomen Szene pflegen, wollen langfristig „überregional und transnational" kampagnenfähig bleiben.
Die „Interventionistische Linke" besteht aus 30 Ortsgruppen, die auch in mittelgroßen Städten wie Aschaffenburg, Tübingen oder Worms aktiv sind.
Es handelt sich nach dem Selbstverständnis um eine „radikale Linke", die lieber „extreme" Fehler machen will als tatenlos zu sein.
Ebenso taucht die Organisation in sämtlichen Verfassungsschutzberichten auf.
Bei den G20-Protesten in Hamburg war das Bündnis einer von knapp 30 Demo-Anmeldern und unterstützte das Errichten von Protestcamps, aus deren Mitte nach den Angaben des Hamburger Innensenators Andy Grote (SPD) der „Schwarze Block" am Vormittag des 7. Juli marodierend durch Altona ziehen konnte.
Die Beteiligung an militanten „Aktionstrainings" mit Blockaden und Besetzungen am Rande des Gipfels, an denen hunderte Protestler teilnahmen, sind ein Ausdruck der überregionalen Mobilisierungsfähigkeit.
Die lose Organisationsstruktur in untereinander vernetzte Ortgruppen und Einzelpersonen begünstigt das Etablieren linksextremer „Aktionsstrukturen" in ländlichen Regionen.

Asylkritik und die linksextremistische Gegenoffensive auf dem Land

Fakt ist, die Szene konnte in den letzten Jahren die Zahl öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten außerhalb großer Ballungsräume schrittweise steigern.
Hintergrund ist auch die Polarisierungswelle in der öffentlichen Meinung infolge der deutschen Asylpolitik seit dem September 2015, die eine links-aktionsorientierte Gegenbewegung in Gang setzte.
Bis heute werden anhaltende asylkritische Demonstrationen, die aggressiv-hetzerischen Charakter aufweisen können sowie auch fremdenfeindliche Anschläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden und Flüchtlingen mit einer linken Gegenreaktion beantwortet.
Der nächste Anlass für gewaltsame Ausschreitungen zwischen Rechts- und Linksextremen bietet das „Rechtsrock"-Festival „Rock gegen Überfremdung" am 15. Juli im südthüringischen Themar, bei dem mehr als 5.000 Rechtsextreme aus Deutschland erwartet werden.
Eine Verrohung der Sprache besonders in den sozialen Netzwerken verstärkt den Meinungskampf der politisch extremen Ränder.
In der Hochphase der sogenannten „Flüchtlingskrise" hatten Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtlinge in ländlichen Regionen um das bis zu Sechsfache zugenommen.
Besonders in den neuen Bundesländern ist der Resonanzboden für eine Anziehung der äußersten Meinungsgegensätze zwischen Willkommenskultur und gefühlter Überfremdung größer.
Neben gewaltsamen Demonstrationen oder Gegenprotesten schreckten die Linksextremisten in ländlichen Regionen auch nicht vor Straftaten zurück.
Besonders waren Rechtsextremisten oder die Alternative für Deutschland das Ziel von Angriffen wie Sachbeschädigung oder Körperverletzung.
Das Bundeskriminalamt kommt im Bundeslagebild „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2016" vom März 2017 zu dem Befund, dass die linke Szene ihre Aktionen „insbesondere in Form von Straftaten gegen den politischen Gegner, aber auch gegen polizeiliche Einsatzkräfte sowie politisch Verantwortliche" nahtlos fortsetzt. Eine „aggressive Grundstimmung" sei erkennbar gewesen.

Erste autonome Erfolge in Sachsen und Brandenburg

Die linksextreme Gegenkampagne auf die wachsende Asylkritik in ländlichen Regionen muss jedoch als Begleiterscheinung zur unveränderten Grundsatzstrategie der Mobilisierung und Vernetzung betrachtet werden.
Die Verfassungsschutzberichte aus Sachsen und Brandenburg dokumentieren diesen Trend.
Besonders in Sachsen wird eine teilweise erfolgreiche Bündnispolitik konstatiert, die über die linksextremistische Szene hinausgehen soll: „Erreicht werden sollte eine bessere länderübergreifende Vernetzung von Linksextremisten, aber auch entsprechende Vernetzung ländlicher Gebiete Sachsens, um lokalen personalschwachen linksextremistischen Gruppen zu einer dauerhaften Struktur zu verhelfen."
Eine breite Öffnung hin zu bislang unpolitischen Bevölkerungsschichten wird beabsichtigt. Mit politisch marktgängigen Regionalthemen wie bezahlbaren Mietpreisen, fehlendem Wohnraum oder dem Schaffen selbstverwalteter Jugend- oder Infozentren soll die Zahl militanter Unterstützer zumindest in Kleinstädten vergrößert werden.
Auch wenn die Ergebnisse der Strategie bisher sehr bescheiden ausfallen, wären Autonome nicht „radikale Linke", wenn sie ihren Ankündigungen nicht entsprechende „Aktionen" folgen lassen würden.
Wie ausgeprägt die Strategie von Linksextremisten fortentwickelt ist, zunehmend in ländlichen Regionen handlungsfähig zu werden, ist im westlichen Teil Sachsens erkennbar.
Auf einem Antifa-Jugendkongress Anfang April 2016 in Chemnitz mit rund 300 Teilnehmern aus Sachsen und Nachbarbundesländern bekräftigten die Antifaschisten ihre Taktik, die in „Ausbau, Präsenz und Vernetzung antifaschistischer Strukturen im ländlichen Raum" besteht.
Bis zum Ende des Jahres 2016 fanden in der Region mehrere Demonstrationen mit zum Teil 700 angereisten Linksextremisten statt, was mindestens einen ersten Achtungserfolg für die örtlich noch immer unstrukturierte Szene bedeutet.
Mit an Bord waren die „Interventionistische Linke" und das Bündnis „...ums Ganze!". Erneut zeigte sich die hohe Mobilisierungskraft des Internetportals „linksunten.indymedia.org" in der linksextremen Szene.
Wie ausgeprägt und relativ schlagkräftig sich eine autonome Szene in einer deutschen Kleinstadt etablieren kann, belegt ein Blick in die Lausitz nach Brandenburg.
In der Stadt Finsterwalde in der Niederlausitz mit etwa 16.000 Einwohnern zählt der Verfassungsschutz eine autonome Szene, der etwa 20 Personen angehören sowie ein mobilisierungsfähiges „breit subkulturell geprägtes Umfeld" mit Punks und antirassistischen Skinheads.
Auch hier scheint die Strategie der bündnisgestrickten Vernetzung weitestgehend umgesetzt.
Brandenburg erreichte wie die Mehrzahl der übrigen Bundesländer im Jahr 2015 einen Höchststand an Gewaltstraftaten aus dem linksextremen Spektrum. Nicht wenige Straftaten gehen auf die autonome Szene in Finsterwalde zurück.
Ebenso erwähnt der Verfassungsschutz in Brandenburg eine etwa seit Herbst 2014 aktive „Antifa-Crew Finsterwalde".
Für eine Kleinstadt im Osten Deutschlands wie Finsterwalde ebenso nicht alltäglich sind regelmäßige Aktionen in Form von Solidaritätsaktionen, Kundgebungen oder Spontandemonstrationen im Kleinformat.
Anschluss besteht auch zu autonomen Strukturen in der Lausitz mit den Kleinstädten Forst oder Spremberg.
Auch im sonstigen Brandenburg konnte sich eine dezentrale, jedoch regional durchaus aktionsfähige Struktur von Autonomen in den Kleinstädten Neuruppin, Prenzlau, Teltow, Stahnsdorf oder Kleinmachnow etablieren.

Das weit verzweigte Netzwerk der „Infoläden"

Es bedarf nicht immer einer autonom gewaltbereiten Szene, um von einem gewissen Organisationspotenzial an Linksextremismus zu sprechen.
Eine Vorstufe zum Aufbau aktionsfähiger Strukturen, die in der Vergangenheit auch im Aufbau autonomer Zentren mündeten, sind sogenannte „Infoläden".
Diese sind bundesweit sowohl in Großstädten wie Berlin als auch in ländlichen Regionen wie dem thüringischen Königsee-Rottenbach (6.500 Einwohner) anzutreffen.
Über die Gesamtzahl an linken Infoläden in Deutschland existieren keine verlässlichen Angaben, jedoch wird von einer mittleren dreistelligen Größenordnung ausgegangen. Zumindest über Internetangebote und soziale Netzwerke kann von einer organisierten Vernetzung der Infoläden gesprochen werden, in der Regel ist die Handlungsfähigkeit örtlich beschränkt. Es handelt sich gewöhnlich um Begegnungs- oder Versammlungsorte einer örtlichen Antifa, die als bevorzugte Anlaufpunkte für die Szene und mögliche Sympathisanten dienen. Die Verfassungsschutzbehörden schätzen die Infoläden als Kontakt- oder Treffpunkte für interessierte Antifaschisten ein, in denen teilweise linksextremistische Schriften und Flugblätter vertrieben werden.
Soweit konkrete Anhaltspunkte für den Vertrieb linksextremer Propaganda oder der Unterstützung militanter Gruppen bestehen, finden Infoläden in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder ausdrückliche Erwähnung.
Ein häufiges Phänomen ist, dass sich Infoläden im Umfeld von Geschäftsstellen, Niederlassungen, Szeneläden oder Abgeordnetenbüros, die von Parteien der demokratischen Linken unterstützt werden, entstehen können.
Infoläden suchen in der Regel den Kontakt mit der örtlichen linken Szene und zeichnen sich ebenfalls durch eine breite Bündnisfähigkeit aus.
Ihr Ziel besteht darin, der lokalen Szene als Plattform eine Stimme zu geben und eine gewisse Infrastruktur bereitzustellen. Regelmäßig kommunizieren Infoläden Protestaktionen und beteiligen sich auch an der Vorbereitung von Blockadeaktionen.
Darüber hinaus vermuten einige Verfassungsschutzbehörden der Länder, dass die „gewaltorientierte autonome / antiimperialistische Szene" diese Einrichtungen regelmäßig zum Informationsaustausch nutzen würde.
Dies muss jedoch im Einzelfall nachgewiesen werden, weshalb den Inhabern nicht eine grundsätzliche Nähe zum Linksextremismus unterstellt werden kann.

In Deutschland werden wir Flüchtlinge akzeptiert wie wir sind

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Als erstes geht es hierbei um unsere Rechte, Rechte derjenigen, die eine ganz andere Religion haben und in Ländern wie Syrien aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. In Syrien hat man nicht das Gefühl gehabt, ein Syrer zu sein.

Man hat sich immer wieder die selben Fragen gestellt: Wurde ich hier in meinem Land, wo ich aufgewachsen bin, akzeptiert? Ich hatte das Gefühl, nicht ein Syrer, also ein echter Syrer, zu sein. Als Syrer sollte ich die selben Rechte wie anderen haben.

Wenn die uns unsere Rechte nicht geben, dann sind wir nicht akzeptiert. Für uns Jesiden und Christen war es ein No-Go Thema über die Religion auf dem Pass zu sprechen. Auf meinem zum Beispiel stand Muslim, obwohl ich ein Jeside war.

Der Grund dafür haben die meisten von uns gewusst: Wir haben keine anerkannte Religionen in diesem Land. Anerkannt? Kann man das so nennen? Weiß ich nicht. Für mich heißt es: Wir sind in deren Augen die schlimmsten dieser Welt. Jedes Mal bei der syrischen Behörde wollte ich immer nachfragen, wieso auf den Pässen "Muslim" stand und nicht "Jeside" oder "Christ"?

Gelungen ist mir dies nie. Denn mit den Beamten über solchen Themen zu sprechen war ein gefährliches Thema. Die hätten uns deswegen festnehmen können. Nur Jesiden und Christen sprachen über diese Themen untereinander. In die Öffentlichkeit damit zu gehen, wäre ganz gefährlich für viele Andersgläubigen.

Wir dürfen zwar alle Jobs ausüben, dennoch unser Religion dürfte auf die Pässe nicht geändert werden. Man wollte immer wie sie sein, endlich anerkannt werden. Als wäre man in Deutschland integriert und darf nicht wählen. Ein ewiger Albtraum für manche. Auch wir bekamen Warnungen, unsere Religion im öffentlichen Raum auszuüben, weil dieser mit unserer Existenz zu tun hat.

In Deutschland ist es ganz was anderes.

Im Gegensatz zu Syrien darf man hier seine Religion in der Öffentlichkeit ausüben. Wir wollten und wollen immer noch in Arabischen Ländern akzeptiert werden und keine Angst vor nichts haben. Wir wollen die gleiche Rechte wie anderen haben und unser Leben in voller Menschlichkeit Leben.

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In Syrien hat sich bei vielen Muslimen ausgebreitet, dass Jesiden Muslime töten würden und wir Terroristen seien. Die Kinder im nah liegenden Dörfer hatten Angst, sich unsern Dorf zu nähern, weil sie diese Angst vor uns hatten. Wir würden Sie töten, sagten sie den Kindern. Auch als wir zu ihnen gegangen sind, weil wir manche kannten: Sie erzählten ebenfalls, dass die Kinder große Angst haben, sich uns an zu nähern.

Das war nicht alles. Wie wurden mehrmals "Teufelsanbeter" genannt und deshalb denken sehr viele, dass wir den Teufel anbeten. Nur in Syrien? Nein. Auch hier in Deutschland verbreitet sich dieser Mist überall. Für mich haben Religionen keine Bedeutung, egal welche Religion es ist.

Seit dem es zu dieser vielen Auseinandersetzungen gekommen ist, ist die Bedeutung von Religion im Abgrund. Wegen Religionen ist der Islamischer Staat in Syrien und Irak unterwegs und tötet alle. Unsere Ängste werden in den Arabischen Ländern nicht ernst genommen. Man hat dort auch versucht, uns zum Islam zu zwingen.

Mehrmals sagten uns unsere Lehrer, warum wir nicht zum Islam konvertieren. Wir würden dann in den Himmel kommen und nicht in die Hölle. Als ob diese Menschen solche Erfahrungen gemacht haben. Bei uns in Syrien spielten Religionen eine große Rolle im Leben. Bist du ein Muslim, dann bist du ein guter Mensch und verdienst Respekt, gehörst du einer anderen Religion an, bist du kein Mensch.

Mehrmals habe man uns auch gesagt: Es würden eines Nachts die Araber zu uns kommen und uns alle hintereinander töten. Diese Vorstellung hat viele von uns abgeschreckt und dazu gezwungen, die ganzen Nacht bis morgen früh wachsam zu bleiben.

Am Nächten Tag wussten alle, dass es nur ein Gerücht war. In Syrien war jede Nacht eine Höllen-Nacht. Weil wir überleben wollten haben wir uns auf den Weg nach Europa, also der Bundesrepublik, gemacht. Niemand hat uns so respektiert und angenommen wie Deutschland und Europa.

Mehr zum Thema: Wenn wir Flüchtlinge uns integrieren, werden wir abgeschoben


Bis heute Frage ich mich, warum auf unseren Pässe nicht die richtigen Religionen standen. Wenn dein Land dich nicht so akzeptiert wie du bist, dann ist es nicht dein Land. Das einzige, auf das ich und viele andere darauf stolz sind, ist in Syrien aufgewachsen zu sein.

Aber an erster Stelle steht für mich Deutschland. Und hier werde ich alles dafür tun, um Deutschland unsere Dankbarkeit zu zeigen. Ganz akzeptiert sind wir nicht, aber wir werden daran arbeiten, dies zu ändern.

Hauptsache wir werden wegen unserer Religion nicht vertreiben. Klar auch in Deutschland kommt es zu solchen Anfeindungen zwischen unterschiedlichen Religionen, jedoch versteht uns die Justiz. Wir sind froh, nicht in Syrien zu leben, sondern in Deutschland. Hier sind wir Menschen. Es steht fest: Deutschland ist unser wahres Land.

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"Zurück zu Luther" - auf der Suche nach einem Glauben für Erwachsene

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Glauben für Erwachsene

Für alle, die heute auf der Suche nach einem Glauben für Erwachsene sind, gibt es nur einen Weg: „Zurück zu Luther!" Das ist die Kernaussage des gleichnamigen Buches von Norbert Bolz. Der Berliner Medienwissenschaftler widmet sich hier der größten Tat des Menschen, die für den Reformator darin bestand zu glauben - auch wenn dies mühsam ist und immer wieder geübt und gelernt werden muss. Glaubenstraining, lebenslang.

Bolz verweist auf die Unterscheidung bei Luther in der Vorlesung über den Hebräerbrief von 1517 zwischen dem Glauben von Gott und dem Glauben an Gott, der nicht in der Natur des Menschen liegt, sondern ein Geschenk Gottes ist. Von Natur aus seien wir schwach im Glauben und können nur beten, dass Gott uns hilft, ihn zu stärken. Deshalb bedarf es der täglichen Übung.

Luther lebte zwischen Mittelalter und Neuzeit. In dieser Zeit des Umbruchs lösten sich alte (Heils)Gewissheiten und Ordnungsstrukturen auf, die bislang von der katholischen Kirche geprägt waren.

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Foto: Dr. Alexandra Hildebrandt

Diese Zeiten des Umbruchs beschreibt der Managementvordenker Fredmund Malik so: „In der Alten Welt geht vieles nicht mehr, weil sie ihrem Ende zugeht. In der Neuen Welt geht vieles noch nicht, weil es noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist."

Deshalb ist es wichtig, Wege zu finden, auf denen es „dennoch" geht. Die höhere Form des Navigierens ist für ihn die Fähigkeit, sich im Unbekannten zurechtzufinden - auch dann, wenn Standorte ungewiss, Ziele beweglich und Wege vielfältig sind.

In seinen Managementbüchern ist nicht vom Glauben die Rede, sondern von der Fähigkeit, ganzheitlich zu sehen und zu denken, Verknüpfungen und Vernetzungen herzustellen und mit Hilfe der richtigen Methoden alles „auf die Reihe" zu bringen.

Es liegt an uns, den Glauben miteinzubeziehen und verschiedene interdisziplinäre Ansätze und Bücher miteinander in Beziehung zu setzen, um in Zeiten des Umbruchs richtig zu navigieren. Bolz und Malik kommen aus unterschiedlichen Richtungen, die aber beide zu Luther führen - und sogar nach Rom.

Erst hören, dann sehen - erst glauben, dann verstehen

Der Glaube hilft uns, unseren Platz bzw. Stand in der Welt zu finden - gemäß Paulus im 1. Korintherbrief 7,20: „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde." Im griechischen Original steht an dieser Stelle das Wort κλ°siw (kläsis). Den „Ruf" Gottes deutet Bolz als Aufruf zu unserem „Beruf", was bedeutet, „dass man nichts Besonderes, Übergebührliches tun, sondern einfach nur durchhalten muss."

Im Managementkontext verbindet Malik Beruf mit den vier konstitutiven Elementen: Aufgaben, Werkzeuge, Grundsätze und Verantwortung. Richtig erlernt und „ständig geübt" (!) machen diese vier Elemente Menschen und Organisationen wirksam und erfolgreich.

Luther lässt das Wort handeln, weil „der Mund mächtiger ist als das Schwert". Für ihn gibt es nur eine Form der Hinwendung zu Gott: das Hören. Glauben heißt (Gottes Wort bzw. Stimme) hören. Es fordert von uns, „die Augen geschlossen und mit aller gebotenen Klugheit auf ein einfaches Hören auszugehen." Auch Luther „prüft seine Sätze mit dem Ohr", dem Organ der Offenbarung.


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Auch dazu finden sich etliche Belege im (Sport-)Managementkontext. Die Autoren Karin Helle und Claus-Peter Niem haben in ihrem Buch „One touch" interessante Denkbruchstücke, Erfahrungen und Berichte zum Thema zusammengetragen. Zitiert wird beispielsweise der Kommunikations- und Motivationstrainer Dale Carnegie, der schon vor fast 100 Jahren sagte, dass das Geheimnis, Menschen zu beeinflussen, weniger darin liegt, „ein guter Redner zu sein, als darin, ein guter Zuhörer zu sein."

Zuhören ist für die beiden Coaches der beste Weg, etwas zu lernen. Auch Bundestrainer Joachim Löw sei es in Eins-zu-Eins-Gesprächen immer wichtig, seinen Spielern in erster Linie zuzuhören.

Und schließlich noch ein Blick auf die Politik: Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte im Interview mit der WirtschaftsWoche im Juni 2017 ebenfalls, dass es ihr wichtig sei, Papst Franziskus „zuzuhören" - „gerade weil er manchmal unbequeme, auch harte Worte an uns richtet, die wir ernst nehmen sollten."

Wie unsere Werke gut und unsere Handlungen gerecht werden

In seinem Luther-Buch beschäftigt sich der Medientheoretiker Norbert Bolz auch mit dem guten Leben, um das es in der Antike ging. Dann folgte im Mittelalter das (Gott) wohlgefällige Leben. In der Neuzeit geht es nur noch ums Überleben, „um die Selbstbehauptung des Menschen gegen einen unverständlichen Willkürgott". Ziel aller menschlichen Bestrebungen sei also nicht mehr das gute Leben, sondern nur noch „die Erhaltung des Lebens selbst", so Bolz.

Das gute Leben machte die Bundeskanzlerin zu einem Regierungsprojekt, in dem es darum gehen sollte, Politik besser auf die Bürger auszurichten. Zu allen Punkten für ein gutes Leben gibt es auf der Website Gut leben in Deutschland https://www.gut-leben-in-deutschland.de/static/LB/index.html entsprechende Informationen.

Mehr zum Thema: Zeichen für demokratische Werte: Warum freie Wissenschaft unverzichtbar ist


Bolz kritisierte in einem Interview mit dem Journalisten Wolfgang Herles, dass Merkel extrem emotionale Themen (wie die Sehnsucht des Menschen nach dem Guten und das kindliche Verlangen gut sein zu wollen) besetze, die politisch nicht zu Ende gedacht werden müssten, „weil sie sofort ein Massenproblem elektrisieren". Dies ist für den Medientheoretiker reiner Populismus.

Es lohnt sich auch vor diesem Hintergrund, mit Bolz „zurück zu Luther" zu kehren. In seinem gleichnamigen Buch erbringt er nämlich den Nachweis, dass sich der Ansatz von Aristoteles - dass uns gute Werke und gerechte Handlungen nicht gerecht machen - bei Luther umkehrt:

„Wenn wir gerechtfertigt sind, werden unsere Werke gut und unsere Handlungen gerecht." Nach der Umkehr (Metanoia) folgen die guten Taten. Darum muss am Anfang die Verzweiflung am eigenen Werk stehen. Wer gerecht ist, klagt sich selbst an. „Stattdessen neigen wir dazu, Gott oder die Gesellschaft anzuklagen, weil sie nach unseren Maßstäben ungerecht sind."

Quellen und Literatur:

Norbert Bolz: Zurück zu Luther. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.

Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten. Campus Verlag Frankfurt am Main 2015.

Karin Helle und Claus-Peter Niem: One touch. Was Führungskräfte vom Profifußball lernen können. Mit Einwürfen von Jürgen Klinsmann, Joachim Löw & Co. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.

Alexandra Hildebrandt: Tiefe des Glaubens: Warum wir ganz unten nicht verloren sind. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.


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Nachhaltiger Tourismus: Warum Kurzurlaube im Trend sind

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Immer mehr Menschen nutzen die Möglichkeit, für kurze Zeit den Alltag hinter sich zu lassen, ohne gleich eine längere Reise planen zu müssen. Energie lässt sich vor allem dann tanken, wenn sie sich mit einem Feiertag oder einem Wochenende kombinieren lässt. Für 2016 ermittelte die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) in Deutschland ca. 33 Millionen Kurzurlaubseidende, die für zwei bis drei Tage mit leichtem Gepäck unterwegs waren.

Viele Menschen sehnen sich heute nach der Leichtigkeit des Seins. „Sag nein zu totem Gewicht" lautet ihre Devise. Das Gefühl, autark zu sein, nimmt ihnen die Sorge, sich in der komplexen Außenwelt zu verlieren. Vor allem die Generation Y sieht kritisch auf das Sicherheitsdenken der „Älteren", die oft zu viel einpacken und die Verzichtsangst des "Was wäre wenn..." nicht ablegen können.

Ein gesundes und produktives Leben sowie neue Denk- und Handlungsräume können nur durch sorgfältigen Minimalismus bzw. „freiwillige Einfachheit" (der Begriff wurde vom Sozialphilosophen Richard Gregg 1936 geprägt, wenngleich die damit verbundene Lebensweise so alt ist wie die Menschheit selbst) erschlossen werden.

Einen radikalen Ausdruck fand der Minimalismus bereits beim Kyniker Diogenes, der in selbst gewählter Armut lebte, um zu zeigen, dass ein freies und sinnerfülltes Leben mit den konventionellen Kriterien des Wohlstands wenig zu tun hat.

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Vor 200 Jahren wurde der amerikanische Dichter, Philosoph, Landvermesser und Lehrer Henry David Thoreau geboren. Der Sohn eines Bleistiftfabrikanten, der in Harvard studierte und die antiken Klassiker im Original las, wird gerade wiederentdeckt - auch von jungen Menschen.

Als Gegner der Sklaverei und der Prügelstrafe an den Schulen plädierte er für ein Leben im Einklang mit der Natur. In seinem Werk „Walden oder Leben in den Wäldern" (1854) beschrieb er sein zweijähriges einfaches und unabhängiges Leben in der Natur. („Walden" ist auch der Name des ersten Outdoormagazins für Männer, das seit 2015 erscheint.)

Das erste Aussteigerbuch der Moderne reiht sich in eine lange Tradition selbstaufklärerischen Denkens ein. Der menschliche Reichtum lässt sich an den Dingen messen, „die er entbehren kann, ohne seine gute Laune zu verlieren", schrieb in seinem Klassiker. Ein berühmter Vorfahre ist beispielsweise Sokrates, der der Athener Bevölkerung Fragen nach dem Sinn ihres Lebens stellt:

„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte."

Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage lebte Thoreau spartanisch in einer kleinen Holzhütte, in der er herausfinden wollte, ob ein Leben mit der Natur möglich ist, und ob das Denken freier fließt, wenn auf zivilisatorischen Ballast verzichtet wird.

Mehr zum Thema: Zeichen für demokratische Werte: Warum freie Wissenschaft unverzichtbar ist

Das folgende Zitat ist auch das Leitmotiv für den "Club der toten Dichter":

"Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte."

Thoreau wurde zur Ikone der Umweltaktivisten. Sein konsumkritischer Ansatz findet sich auch im Song "Leichtes Gepäck" von Silbermond:

„Eines Tages fällt dir auf,
dass du 99% nicht brauchst.
Du nimmst all den Ballast
und schmeisst ihn weg,
Denn es reist sich besser,
mit leichtem Gepäck."


Quellen und weitere Informationen:

Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Biographie von Frank Schäfer. Suhrkamp, Berlin 2017.

Alexandra Hildebrandt: Das Gute in der Nähe finden: Urlaub ist... wo wir uns im richtigen Leben aufgehoben fühlen von Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.


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Srebrenica - ein Abgrund des Westens

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Geheime Diplomatie

Und wieder trauert die Welt in diesen Tagen in Erinnerung an ein Massakker, das vor genau 22 Jahren im bosnischen Srebrenica stattfand. Ein kaum zu überblickendes Meer von Grabsteinen mit pfählernen Mahnmahlen dicht an dicht rückt erneut die Tragödie vom 10.Juli - 18. Juli 1995 ins Gedächtnis, als rund 7000 Muslime von der serbisch-bosnischen Armee unter ihrem Kommandanten Ratko Mladic bei der Flucht aus der damaligen Enklave Srebrenica grausam abgeschlachtet wurden. Doch nicht jeder der zahlreichen Ehrengäste, die sich in diesen Tagen vor den Opfern verneigen, wird die Dämonen der Vergangenheit - nämlich die Mitschuld der Internationalen Gemeinschaft an diesem Verbrechen - gänzlich aus seinem Gewissen löschen können. Denn Srebrenica bleibt neben dem größten Völkermord seit dem 2. Weltkrieg auch ein Mysterium, ein Abgrund an internationaler Ignoranz, Feigheit und perfider Diplomatie, die um der eigenen Interessen willen buchtäblich „über Leichen ging."

Fakten, Dementis und Widersprüche

Hunderte von Medienberichten, Memoiren und Bücher haben seither versucht, die damaligen Ereignisse nachträglich aufzuarbeiten.

Mit zweifelhaftem Erfolg. Nicht selten wird der Leser am Ende verwirrter sein als zuvor. Schuldzuweisungen über die nicht erfolgte Nato-Luftunterstützung oder die Frage, ob westliche Geheimdienste die Massakker in Echtzeit verfolgen konnten werden wie ping-pong-Bälle zwischen den Verantwortlichen verschoben, nicht selten sind nationale Tendenzen - etwa bei Recherchen zugunsten der damals in Srebrenica stationierten holländischen Blauhelme (Unprofor)- nicht zu übersehen. Uneinigkeit besteht zudem darüber, ob die in der Enklave eingeschlossen Muslime aufgrund fehlender militärischer Ausrüstung keine Gegenwehr leisteten, ob sie Flucht aus Angst ergriffen oder gar der Befehl zur widerstandslosen Aufgabe aus Sarajewo kam. Auch die Frage, ob es erst der fehlende Widerstand der bosnischen Armee war, der den serbisch-bosnischen Generalstabschef Mladic ermutigte nicht nur die Außenbezirke sondern die gesamte Stadt einzunehmen oder die Eroberung bereits Monate vorab geplant war, wird heiß und kontrovers diskutiert. Auch 22 Jahre nach dem Fall Srebrenicas bleiben so viele Fragen ohne Antworten.

Der deal ist perfekt


Ungeachtet mancher Widersprüche bei der Einschätzung der Geschehnisse im Juli 1995 - in einem Punkt scheint sich wohl die Mehrzahl der mit den Hintergründen befaßten Autoren einig zu sein: Dem Angriff der serbisch-bosnischen Armee auf Srebrenica und den folgenden Massakern ging ein diplomatischer deal mit Belgrad und dessem damals uneingeschränkt herrschendem Präsidenten Slobodan Milosevic voraus (+2006 während seines Prozesses vor dem Haager Kriegstribunal). Den Großmächten war der blutige Krieg in Bosnien zwischen der muslimisch-kroatischen Armee und der bis dahin übermächtigen serbischen Armee längst entglitten. Sie verfolgten nur noch ein Ziel: eine Friedensvereinbarung um jeden Preis und dies vor Wintereinbruch. Fast das ganze Frühjahr 1995 hatten internationale Vermittler, u.a. der US-Vertreter in der 5-köpfigen Kontaktgruppe Robert Frasure, mit Milosevic über dessen Anerkennung Bosniens und ein Friedensabkommen für Bosnien verhandelt. Die tatsächlichen serbischen Gesprächspartner in Bosnien - der Präsident der „Republik Srpska", Radovan Karadzic und sein Militärchef Ratko Mladic- wurden vom Westen weitgehendst ignoriert. Sie hatten sich durch ihre brutalen ethischen Säuberungen und die 3 ½ -jährige Bombardierung Sarajewos längst als legitime Verhandlungspartner disqualifiziert. Der starke Mann und die letzte Hoffnung eines kriegsmüden Westens war aller Ironie zum Trotz der Initiator aller Kriege auf dem Balkan, Slobodan Milosevic.

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Und der hielt sich an sein Prinzip: „Man muß immer den richtigen Augenblick wählen um seine Ziele zu erreichen. Der erste Schuß muß immer geradewegs in die Stirn gehen." (während einer Diskussion mit der serbischen Führung in Pale, aufgezeichnet im Buch von Nikola Koljevic:Stvaranja republike Srpske)


Schuß in die Stirn

Der richtige Augenblick für Stirn und Erpressung des Westens war jetzt gekommen: Milosevic forderte als Gegenleistung für ein Friedensabkommen die 3 unter UN-Schutz stehenden Enklaven Srebrenica, Zepa und Gorazde. Diese waren in dem seit Sommer 1994 vorliegenden Plan über eine künftige territoriale Aufteilung Bosniens den bosnischen Muslimen zugeschlagen worden - was die Kompaktheit der serbischen Entität empfindlich beeinträchtigt hätte. Im Gegenzug stand die Garantie, den Widerstand der bosnischen Serben gegen eine Friedensvereinbarung zu brechen und deren militärischen Rückzug auf 49 % des Territoriums (zu diesem Zeitpunkt hielten die Serben 70 % ) zu sichern.
Ein Angebot das , wenn auch unmoralisch, Washington - und in dessen Schlepptau vermutlich auch Paris und London - kaum ablehnen konnten und wollten. Der deal war besiegelt, die Enklaven zum Sturm freigegeben. In einer mittlerweile dechiffrierten Depesche der CNN wird die doppelte Moral des Westens deutlich. 3 Tage nachdem General Mladic Srebrenica eingenommen hatte resümmierte der CIA, ..."daß man sich der Analyse einiger amerikanischer Politiker anschließe, die Entfernung der Enklaven, die ein fortgesetztes Hindernis gewesen seien, würde die Verhandlungschancen für einen Frieden erhöhen."
Auch andere internationale Politiker wie etwa der schwedische Vermittler Carl Bildt gestanden: Alle wußten daß ein Friedensabkommen den Verlust der Enklaven bedeutetet.
Eine Untersuchungskomission des französischen Parlaments kam zum selben Schluß: Hinter der UN hätten Großmächte gestanden, die 1995 die Verhandlungen über eine küftige ethnische Aufteilung Bosniens vereinfachen wollten.
Srebrenica wurde geopfert. Doch man machte einen fatalen Fehler, schreibt Florence Hartmann, die langjährige Sprecherin der ehemaligen Tribunal-Chefanklägerin Carla Del Ponte in ihrem Buch „Friede und Bestrafung": Man hätte Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen müssen - und tat es nicht. Das Resultat ist bekannt.

Blauäugige Strategie am grünen Tisch

Es ist indes kaum anzunehmen daß die Reißbrett-Strategen, die am Verhandlungstisch ganze Bataillons in die Schlacht schickten um ihre diplomatischen Ziele zu realisieren, die Frage der Evakuierung von rund 42 000 Einwohnern Srebrenicas nicht erörterten - etwa einen Korridor ins rund 70 km entfernte Tuzla, das von den bosnischen Truppen kontrolliert wurde. Mit der Ermordung von 7000 Männern auf diesem Fluchtweg hatte dabei sicher niemand gerechnet - auch wenn bosnische Politiker angesichts der immer deutlicheren Anzeichen eines serbischen Angriffs eindringlich davor warnten.

Wie also kam es dazu, daß Tausende Männer und Jungen gezwungen wurden, auf Feldern niederzuknien um dann von Erschießungskommandos wie Schlachtvieh in stundenlangen Exekutionen ermordet zu werden ? Wer gab den Befehl, 1000 Männer in einer Fabrik in Kravica einzusperren, die Gefangenen darin anschließend mit Bomben und Gewehrsalven zu töten? Beim Haager Kriegstribunal ist man davon überzeugt, daß nur der serbische General Ratko Mladic, seinerzeit Militärchef der serbisch-bosnischen Armee, diese Befehle erteilten konnte - ungeachtet der Horden von Freischärlern, die sich schon in der Planungsphase der Eroberung nahe Srebrenica versammelt hatten - Abschaum der mordete und plünderte und sich seit Jahren als willkommener Handlanger bei ethnischen Säuberungen verdient machte.


Zwischen Napoleon und Waterloo


Wer den serbischen General Ratko Mladic kennt wird ihn als unberechenbar beschreiben, ein Mann der seit dem Selbstmord seiner Tochter 1994 zwischen Depressionen und cholerischen Anfällen schwankte. Ein Napoleon wollte er sein, der mit seiner Genialität die Serben in Bosnien zur „La Grande Nation" erheben würde, befreit von den „Türken", wie die Muslime verächtlich von der serbischen Bevölkerung genannt wurden. Doch gleichzeitig sah er auch sein Waterloo nahen..

Wir werden den Krieg verlieren, tobte und wütete ein entfesselter Mladic am 15.April 1995, drei Monate vor dem Angriff auf Srebrenica, mit hochrotem Gesicht auf einer Sitzung der politischen Führung im bosnischen Sanski Most. Während seine Armee ohne Nahrung, Munition und Treibstoff sei, herrsche in Pale - dem Sitz der bosnischen Serbenführer - Profitgier, humanitäre Hilfen würden veruntreut und Unfähigkeit machten jeden Erfolg seiner Armee zunichte.

Die Korruption der serbischen Führung in Pale war kein Geheimnis. Selbst im entlegensten Schützengraben wußte man längst, daß der vermeintliche Serben-Retter Radovan Karadzic in den Kasinos von Belgrad pro Nacht Millionen DM verspielte während der Sold eines Soldaten an der Front 8 DM monatlich betrug. Massenweise machten sich Deserteure jede Nacht auf den Weg, um mit Booten über die Drina den sicheren Hafen Belgrad zu erreichen. Mladics Versuche, Tausende seiner Deserteure gewaltsam wieder mit Bussen nach Bosnien zurückzubringen, blieben erfolglos. Erst als auch serbische Polizisten die „Verräter" jagten, konnten einige wieder in den Dienst des Vaterlandes gestellt werden.
Indes, nicht genug um 1600 km Grenzlinie zu kontrollieren, die die Serben mittlerweile in Bosnien erobert hatten.

Mehr zum Thema: 40 Jahre Gefängnis für Radovan Karadzic, - doch der Geist ist noch lange nicht in der Flasche


Mladic - vergeblicher Bittsteller in Moskau

Neid und Panik muß Mladic gleichermaßen erfaßt haben wenn er die Entwicklung beim Kriegsgegner beobachtete. Die bosnischen Armee hatte mittlerweile nicht nur weitaus mehr Kämpfer zur Verfügung, sie erhielt auch - mit stillschweigendem Einverständnis der USA und unter Verletzung des Waffenembargos - immer mehr Militärausrüstung aus dem Iran, Saudi-Arabien und der Türkei.
In Washington wurde auf Drängen Senator Robert Doles zugleich darüber diskutiert, das Waffenembargo gegen die Muslime in Bosnien einseitig aufzuheben. Amerikanische Militärausbilder schulten seit langem die bosnischen Militärs. Im Falle eines (mehrfach angedrohten) Rückzugs der Unprofor sollte die bosnische Armee zum gleichwertigen Gegner auf dem Schlachtfeld werden.

Solchen Entwicklungen konnte Mladics nur verzweifelt hinterherrennen. Belgrad leistete zwar nach wie vor militärische Hilfe - doch Milosevic wollte sich die Chance einer Aufhebung des gegen Serbien verhängten Wirtschaftsembargos nicht von „Verrückten",wie er die serbische Führung jenseits der Drina mittlerweie bezeichnete, nehmen lassen. Mladic reiste heimlich als Bittsteller nach Moskau - letztmals am 3.April 1995 - und forderte von dort militärische Hilfe. Vergeblich. Jelzin dachte nicht daran, sich die guten Beziehungen zu Washington durch den international geächteten „Schlächter" zerstören zu lassen.

Mehr zum Thema: Gericht urteilt: Niederlande tragen Mitschuld am Völkermord in Srebrenica



Erfolgreiches Prinzip „Geiselnahme"


Als die UN mit der Resolution 998 vom 15.6.1995, also einen Monat vor der Einnahme Srebrenicas, auch noch eine 12 500 Mann starke „schnelle Eingreiftruppe" genehmigte, die ausgerüstet mit Panzern, schwerer Artillerie und Kampfhubschraubern in Bosnien zum Einsatz kommen sollte und auch befugt war, direkte Angriffe gegen die Serben zu führen, mußte Mladic um sein letztes Faustpfand bangen: Die bis dato erfolgreiche Erpressung durch Geiselnahmen.

Eine bewährte Methode, mit welcher er bisher dem Westen die Daumenschrauben ansetzen konnte und der ihm, so wird vermutet, später auch den ungehinderten Einmarsch in Srebrenica ermöglichte.

Als am 25.5.1995 Natoflugzeuge - wenn auch halbherzig - zwei (leere) Munitionslager bei Pale bombardiert hatten, zögerte Mladic keinen Augenblick. Schon am nächsten Tag sah die Welt auf ihren TV-Bildschirmen 370 UN-Soldaten, angebunden an Brückenpfeilern und als Geiseln schutzlos der Willkür eines vor Wut schäumenden Mladics ausgeliefert, der mit Erschießung drohte falls die Nato ihre Bombardierung fortsetze.
Das Kalkül ging auf. Der Westen kroch zu Kreuze. Am 28. Mai wurden die Nato-Angriffe bis auf „absehbare Zeit" gestoppt.

Geheimabsprache zwischen Mladic und Frankreich?

Mit „einer persönlichen Botschaft" des französischen Präsidenten Jacques Chirac reisten französische Generale, unter ihnen der UN-Kommandant Bosniens Bertrand Janvier nach Zvornik, um in Geheimgesprächen mit Mladic über die Freilassung der Geiseln - die meisten davon Franzosen - zu verhandeln. Der formulierte seine Bedingungen klar: Die Geiseln im Austausch zum künftigen Verzicht der Nato, Luftangriffe auf die bosnischen Serben zu fliegen.
Die Geiseln wurden freigelassen, die Offiziellen der UN und die französischen Offiziellen negieren bis heute einen deal.
Doch kaum einer der internationalen Beobachter oder Militärexperten zweifelt an dieser Form des Lösegelds. Selbst der bekannte US-Vermittler Richard Holbrooke spricht in seinem Buch „Der Weg nach Dayton" von wichtigen, wenn auch indikativen Beweisen, daß es nach der Befreiung der Geiseln zu einer Geheimabsprache zwischen den lokalen Kommandanten der UN und den bosnischen Serben kam bei welchem der künftige Verzicht auf Luftangriffe der Nato zugesagt wurde. Überzeugt von solch eine Zugeständnis gaben sich auch Milosevic und die Führung in Pale.

Das Verhalten der UN-Offiziellen, unter ihnen UN-Kommandant Bertrand Janvier, bei der Attacke auf Srebrenica und den bereits absehbaren Exekutionen bestätigt diesen Verdacht eher als daß er ihn ausräumt. Man zögerte tagelang bei der Anforderung von Nato-Luftangriffen, beschönigte die tatsächliche Situation in der Enklave und beschuldigte sich am Ende gegenseitig des Fehlverhaltens und der „Fehleinschätzung". Ohne Zustimmung der UN waren der Nato, deren Kampfhubschrauber teils stundenlang über der Adria kreisten und auf ihren Einsatz warteten, die Hände gebunden. Der Grund ist ein „doppelter Schlüssel", der bei Nato-Unterstützung sowohl der Zustimmung der Nato als auch der Vereinten Nationen bedarf.



Fürchtete Mladic die erneute Rekrutierung muslimischer Flüchtlige?

Und dennoch bleibt die Frage offen: Eine leere Enklave, aus der nicht nur die Einwohner flüchteten sondern auch die zu ihrem Schutz beorderten holländischen UN-Soldaten um ihren freien Abzug flehten- was treibt einen siegreichen Feldherrn dann noch zum Völkermord?

War es jenes langgezogene Zelt, das nach Eintreffen der ersten Flüchtlinge aus Srebrenica am Eingang des Flughafens von Tuzla aufgebaut war und aus dessen Lautsprechern unermüdlich die Stimme eines dort sitzenden bosnischen Militärs klang: alle Männer, die eintreffen, haben sich zuerst beim Kommando zu melden um ihren nächsten Einsatzbefehl abzuholen. Erst dann können sie sich kurz bei ihren Familien melden. Gespräche mit Ausländern sind nicht erlaubt.

Währenddessen kauerten in unzähligen kleinen Zelten auf dem Rollfeld Tausende evakuierter Frauen und Kinder aus Srebrenica, die angstvoll auf ihre Männer, Väter und Söhne warteten - bereits wissend, daß ein Großteil in serbischen Hinterhalt geriet?

Sollte Mladic die Tötung von 7000 Männern und Jungen nicht bereits Monate vorab geplant haben, so wäre spätestens dies der Zeitpunkt gewesen, ihn in unkontrollierte Panik zu versetzen. Gerettete Muslime als erneute Frontkämpfer gegen seine ohnehin geschwächte Armee zu sehen waren für ihn zweifellos unvorstellbar.


Unsäglicher Haß zwischen Muslimen und Serben

Oder war es Rache? fragte der Staatsanwalt des Haager Kriegstribunals den ehemaligen französischen UN-Kommandanten und 5-Sterne-General Philippe Morrillon am 12.2.2004 im Zeugenstand. Morillon war zwischen 1993 und 1994 in Srebrenica stationiert und hatte nur eine Antwort: Ja - ja - und nochmal ja. Nirgendwo in Bosnien habe er solch tiefen Haß zwischen Serben und Muslimen gesehen wie in dieser Region. Was 1995 passiert sei sei eine direkte Reaktion auf die grausamen Verbrechen, die der für Srebrenica zuständige militärische Führer der bosnischen Armee, Naser Oric, an der serbischen Bevölkerung in den umliegenden Dörfern verübt habe. Oric sei ein „warlord" gewesen, der mit Terror regierte - sowohl über seine Region als auch über die muslimanische Bevölkerung. Und er habe in einem Gespräch mit ihm, sagt Morillon, nicht einmal eine Entschuldigung für die Morde gesucht. Sein Standpunkt sei gewesen, .."man könne sich nicht mit Gefangenen belasten." Schon damals habe er mit dem Schlimmsten gerechnet, falls die Serben jemals in die Enklave eindringen würden.

Daß die muslimanische Armee aus der Schutzzone Srebrenica heraus Massaker an den Serben verübte, wird von Sarajewo nur ungern bestätigt und gerne auch mit dem Vorwurf gekontert, die Anschuldigungen seien „pro-serbisch" gefärbt. Tatsache ist, daß allein am orthodoxen Weihnachtsfest 1993 49 serbische Einwohner des Dorfes Kravica von der bosnischen Armee und ihrem Militärführer Oric getötet und 86 schwer verletzt wurden.



Die Mafia von Srebrenica

Doch auch innerhalb der Enklave herrschte laut Pulitzer-Preisträger David Rohde erbitterter Streit zwischen den dortigen Muslimen. Schießereien zwischen muslimischen Fraktionen waren an der Tagesordnung. In seinem Buch „Endgame - The betrayal and fall of Srebrenica" beschreibt Rohde, wie die politische Führung der Stadt nicht minder in Korruption verwickelt war wie die Serbenführer aus Pale. Humanitäre Hilfen wurden gehortet und zu Schwarzmarktpreisen an die hungernde Bevölkerung verkauft, Hundertausende von Dollar die aus Sarajewo oder der Emigration eingeschleußt wurden um an die Hinterbliebenen getöteter Kämpfer verteilt zu werden landeten in den Taschen der herrschenden Mafia. Vor Attentaten auf politische Opponenten wurde nicht gezögert.

Fortsetzung folgt: „Feind „Unprofor", Izetbegovic zwischen 2 Fronten und was wußte der Westen tatsächlich über den bevorstehenden Angriff auf Srebrenica.....

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Srebrenica - ein Abgrund des Westens II

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Vor 22 Jahren überfiel die bosnisch-serbische Armee die Schutzzone Srebrenica. 7000 bosnische Männer und Jungen wurden getötet.
Doch nicht jeder der zahlreichen Ehrengäste, die sich in diesen Tagen vor den Opfern verneigen, wird die Dämonen der Vergangenheit - nämlich die Mitschuld der Internationalen Gemeinschaft an diesem Verbrechen - gänzlich aus seinem Gewissen löschen können. Denn Srebrenica bleibt neben dem größten Völkermord seit dem 2. Weltkrieg auch ein Mysterium, ein Abgrund an internationaler Ignoranz, Feigheit und perfider Diplomatie, die um der eigenen Interessen willen buchtäblich „über Leichen ging."



Feind „Unprofor"

Doch auch innerhalb der Enklave herrschte laut Pulitzer-Preisträger David Rohde erbitterter Streit zwischen den dortigen Muslimen. Schießereien zwischen muslimischen Fraktionen waren an der Tagesordnung. In seinem Buch „Endgame - The betrayal and fall of Srebrenica" beschreibt Rohde, wie die politische Führung der Stadt nicht minder in Korruption verwickelt war wie die Serbenführer aus Pale. Humanitäre Hilfen wurden gehortet und zu Schwarzmarktpreisen an die hungernde Bevölkerung verkauft, Hundertausende von Dollar die aus Sarajewo oder der Emigration eingeschleußt wurden um an die Hinterbliebenen getöteter Kämpfer verteilt zu werden landeten in den Taschen der herrschenden Mafia. Vor Attentaten auf politische Opponenten wurde nicht gezögert.

Dazu kam der Haß gegen die eigenen Beschützer. Grenzenloses Mißtrauen gegenüber den holländischen UN-Truppen führte lt. Rohde zur absurden Situation daß man während der serbischen Attacke auf die Stadt sogar erwägte, holländische Geiseln zu nehmen oder einige UN-Soldaten zu erschießen. „Fuck you" war in diesen Tagen das meistgehörte Wort das die Blauhelme aus den Niederlanden von den Muslimen hörten.

Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Der französische Kommandant Bertrand Janvier hatte der bosnischen Armee mehrmals vorgeworfen, sie schieße mit Scharfschützen auf UN-Soldaten um dies anschließend den Serben anzulasten.

Verschärft wurde die Situation in diesen dramatischen Tagen durch die Erschießung eines holländischen Soldaten am 6.Juli durch bosnische Kämpfer.
Was dagegen am 11.Juli geschah bleibt weiter ungeklärt.
Als Muslime einen holländischen Panzer nahe dem Dorf Jaglici blockierten, soll der Kommandant des Panzers die Fahrt fortgesetzt und dabei mehr als 20 Muslime getötet haben. Ein holländischer Soldat filmte das Geschehen - doch der Film wurde später im holländischen Verteidigungsministerium „versehentlich" vernichtet.

Rohde beschreibt, wie am 10. Juli - also einen Tag vor der endgültigen Eroberung der Enklave - General Janvier die Bosnier beschuldigte, sie versuchten bewußt die UN in Kämpfe zu verwickeln.
Ich erinnere jeden, wird Janvier zitiert, daß die Truppen der bosnischen Armee stark genug sind, sich selbst zu verteidigen.


Verrottete Raketen oder modernste Abwehrwaffen?


Waren sie dies tatsächlich? Daß Srebrenica nicht „demilitarisiert" war, wie dies die UN-Resolution vorsah, will heute kaum noch jemand bestreiten. Tatsache ist auch, daß sich die Mehrheit der dort befindlichen rund 4000 Soldaten mit weiteren 6000 - 10 000 männlichen Einwohnern der Stadt schon einen Tag vor der Einnahme der Stadt, also am 10.Juli, in den Wäldern versammelte. Die Kolonne wollte sich ins muslimisch-bosnisch kontrollierte Tuzla durchschlagen -ohne auch nur einen Schuß auf die anrollenden serbischen Panzer abzugeben. Der Rechtfertigung, die vorhandene Militärausrüstung sei marode und unbrauchbar gewesen stehen präzise Angaben konstanter Waffenlieferungen an die Schutzzone gegenüber. Selbst Bosniens Präsident Alija Izetbegovic sagte am 5.8.1995: „Unsere Armee versuchte, Srebrenica ausreichend Waffen zukommen zu lassen. Wir haben 17 Hubschrauber mit Waffen in die Stadt geschickt und unsere Armee-Experten waren sicher, man könne damit Srebrenica 30 Tage verteidigen. Warum, fragte Izetbegovic, wurde in Srebrenica nicht ein einziger Panzer getroffen?"

Bosniens Generalstabschef Rasim Delic führte das militärische Desaster auf die innere Destruktion der Lokalpolitiker in der Stadt zurück, welche selbstherrlich und parallel regiert und die Anordnungen aus Sarajewo mißachtet hätten. Man habe Srebrenica in den letzten Monaten mehr Waffen zukommen lassen als der Generalstab 1993 für ganz Bosnien wollte, sagte Delic: Antipanzerwaffen für größere Entfernungen, Laserwaffen, ausreichend Raketen und genügend Munition.


Washingtons geheime „Schwarz-Flüge"

Und es war nicht allein Sarajewo, das seine Landsleute in den Enklaven aufrüstete. Cees Wiebes, holländischer Geheimdienstexperte, zitiert in seinem Buch „Intelligence and the war in Bosnia" Dutzende von Quellen, die konstante nächtliche „Schwarz-Flüge" mit Waffenlieferungen für die Enklaven bestätigten. Die UN kontrollierte zwar in Tuzla die längste Landebahn. Doch drei weitere Landebahnen waren relativ weit von dieser entfernt und uneinsehbar für die dort stationierten Blauhelme.
Ein Auszug aus Cees Wiebes Buch:
Am 10.2.1995 um 17.45 stand der norwegische Pilot Ivan Moldestad vor seiner Unterkunft etwas außerhalb von Tuzla. Es war dunkel, als er plötzlich die Propeller eines vorbeifliegenden Transportflugzeuges hörte. Es war eindeutig eine 4-motorige Hercules C-130, die von 2 Kampfjets begleitet wurde. Auch andere Augenzeugen bemerkten das Flugzeug und berichteten dies dem Nato-Flugzentrum in Vicenza sowie der UN-Flugkontrolle in Naples. Als Moldestad in Vicenza anrief wurde ihm gesagt, es haben keine Flugverkehr in dieser Nacht gegeben, er müsse sich geirrt haben. Als er insistierte wurde die Verbindung unterbrochen.

Ein britischer General, der direkten Zugriff auf die Geheimdienstprotokolle einer britischen Spezialeinheit hatte, war sich der amerikanischen Herkunft dieser Waffen sicher.
Für die Lieferungen von Waffen und Militärausrüstung via den Flughafen Tuzla besitze die UN Beweise, bestätigte auch der amerikanische Militärexperte Richard Butler vor dem Kriegstribunal in Den Haag.

Der Kommandant der Schutzzone Zepa, von welcher aus die Waffen nach Srebrenica weiter transferiert wurden, berichtete Mitte April 1995 er habe nach Srebrenica 50 000 Schuß Munition, 110 Minen, 90 Maschinengewehre und Uniformen weitergeleitet. In Zepa seien zusätzlich 4 TF8 Raketen eingetroffen sowie 1 Raketenwerfer.

Daß solche Angaben offiziell dementiert werden, ist kaum überraschend.


Izetbegovic, ein frustrierter Landesführer zwischen 2 Fronten

Kaum überrascht über den serbischen Angriff auf Srebrenica hatte sich indes auch Bosniens Präsident Alija Izetbegovic gezeigt. Als am 11.7. die Meldung von der Eroberung der Enklave eintraf, unterbrach dieser nicht einmal die Sitzung des Hauptausschusses seiner SDA-Partei in Zenica, an der er ebenfalls teilnahm. Ganze 5 Minuten wurden dem Verlust der Stadt gewidmet.
Tatsächlich hätte der bosnische Führer blind und taub sein müssen, um aus dem jahrelangen Drängen zahlreicher internationaler Vermittler zu einem Austausch Srebrenicas gegen die von Serben besetzten Vororte Sarajewos nicht auch die damit verbundene Drohung zu hören. Der damalige bosnische Außenminister Muhamed Sacirbegovic erinnert sich an konkrete Warnungen, man werde im Falle einer Weigerung Sarajewos zum Austausch die Enklaven nicht verteidigen. Premier Haris Silajdzic wurde beim Besuch in den USA am 8.6.1995 ebenfalls eindringlich aufgefordert, die Enklaven aufzugeben. Diese seien ohnehin verloren. Einer Warnung, der sich Warren Christopher, Charles Redman, Richard Holbrooke - allesamt enge Berater von Präsident Clinton, anschlossen.

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Lt. Aussagen des ehemaligen Kommandanten des bosnischen Armee, Sefer Halilovic hatte Izetbegovic seit 1993 den Führern in Srebrenica mehrmals den Tausch vorgeschlagen. Doch diese hätten abgelehnt.
Am 15. März 1995, also 2 Monate vor der Eroberung der Enklaven Srebrenica und Zepa, schickte der in Bedrängnis geratene Izetbegovic sogar einen Unterhändler, den Akademiker Muhamed Filipovic, nach Belgrad um mit Milosevic über einen Territorientausch und eine eventuelle Umsiedlung der Bevölkerung zu verhandeln.
In seinem Buch „Schlaue Strategie" vermutet Sefer Halilovic, daß es schließlich zu einer Vereinbarung zwischen Izetbegovic und Milosevic gekommen sei. Sarajewo habe dabei zugesagt, einen Gebietsaustausch stillschweigend zu dulden, wenn dieser unter Vermittlung der USA und EU stattfände.

Der Abzug des Militärchefs von Srebrenica, Naser Oric, samt 15 weiterer Militärkommandanten im April 1995 aus der Stadt und das von Izetbegovic verhängte Verbot ihrer Rückkehr schien zunächst vielen ein Indiz , daß der bosnische Präsident mit einem bevorstehenden Fall der Enklave rechnete.


3 Affensystem: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Doch warum kam es nicht zu einem friedlichen Gebietsaustausch, dem lt. Holbrooke auch die Serben in Pale zugestimmt hätten?
Hatte sich Izetbegovic, der für eine Meinungsänderungen berüchtigt und international gefürchtet war, doch für die spektakuläre Lösung entschlossen, die die Nato zur Verteidigung der Schutzzone zwingen würde und in dessen Folge die erhoffte kriegsentscheidende Bombardierung aller bosnisch-serbischen Stellungen? Man mag Izetbegovics Verzweiflung nachvollziehen, der zu Kriegsbeginn überzeugt war, der Westen werde sein Bemühen um die Einheit Bosniens notfalls mit Gewalt verteidigen und am Ende feststellen mußte, daß dies eine Fehlkalkulation war.

Mehr zum Thema: Srebrenica - ein Abgrund des Westens


Wurde der Westen vom Zeitpunkt des Angriffs auf Srebrenica tatsächlich überrascht oder zählte die offizielle Empörung zur offiziellen Diplomatie?
Unzählige abgehörte Gespräche der Geheimdienste und der Kriegsparteien untereinander sollen bereits Wochen vor dem Angriff der Serben auf deren Absicht hingewiesen haben, die Enklave gewaltsam zu erobern. Bosnien sei zu diesem Zeitpunkt das am meisten abgehörte Land der Welt mit Hunderten von Agenten gewesen, die nicht nur die Kriegsparteien sondern sich auch gegenseitig abhörten und ausspionierten, schreibt Geheimdienst-Experte Wiebes. Sie hätten sich in UN-Posten infiltriert, in humanitäre Organisationen, das Rote Kreuz und alles, was in Bosnien Zugang zu Informationen und Terrain hatte. Vor allem die Amerikaner hätten dabei, ohne selbst Bodentruppen stationiert zu haben, das gros der Agenten gestellt.
In Zagreb führte die CIA ihr eigenes Büro, das sie jedoch sorgsam vor den Kollegen anderer Staaten abschirmte. Jeder der Geheimdienste habe sein eigenes Süppchen gekocht, stellt Wiebes fest, die gesammelten Daten seien nur selten der UN zur Verfügung gestellt worden sondern fast ausschließlich den eigenen nationalen Sicherheitsbehörden.
Angeblich hatten die Späher auch direkten Zugang ins Umfeld von Mladic und Karadzic.
Trotzdem will kein einziges Land über die serbische Attacke vorab informiert gewesen sein.

Verspätete Auswertung von Filmmaterial, fehlende Dolmetscher.

Für die technisch hochentwickelten Abhöranlagen, Satelliten und Aufklärungsflieger war selbst der militärischen Funkverkehr der Kriegsparteien keine Hürde. Bei den Prozessen vor dem Haager Kriegstribunal wurden Hunderte von Abhörprotokollen als Beweise vorgelegt. Bis heute negiert jedoch jedes dieser Länder, die sich sonst der Erkennung einer Fliege auf dem Teller rühmen, Echtzeit-Informationen über die geplante serbische Offensive und vor allem die tagelangen Exekutionen gehabt zu haben.
Die Recherchen zahlreicher Journalisten belegen das Gegenteil.
Als die Ermordung muslimanischer Männer in vollem Gange war, hätten zwei amerikanische Auflärungsflugzeuge U2 und Predator Hunderte von Luftaufnahmen gemacht, behauptet der französische Journalist Jacques Masse in seinem Buch „Unsere lieben Kriegsverbrecher". Auf einer Fotografie vom 17.Juli sei auf einem Feld nahe einem Landwirtschaftsgelände in Branjevo aufgewühltes Erdreich zu sehen, in welchem Leichen in Eile von Baggern verscharrt worden waren - rechts davon sei der Boden immer noch von Toten überdeckt gewesen. Die Bilder wurden jedoch erst am 9. August dem UN-Sicherheitsrat von der damaligen Vertreterin Washingtons bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, übergeben. Auch die durch ihre Position als Sprecherin der damaligen Chefanklägerin Carla del Ponte unmittelbar an der Dokumentenquelle sitzende Journalistin Florence Hartmann hegt keine Zweifel; Die westlichen Mächte hätten alle Vorab-Kenntnisse über die serbische Offensive gehabt und die Massenmorde in Echtzeit verfolgt. Der deutsche Geheimdienst-Experte Udo Ulfkotte teilt diese Erkenntnis. In seinem Buch „Verschlußsache BND" behauptet Ulfkotte, der britische Außenminister Malcom Rifkind habe - nur wenige Minuten zeitversetzt - die Massaker von Srebrenica verfolgen können.

Mehr zum Thema: 40 Jahre Gefängnis für Radovan Karadzic, - doch der Geist ist noch lange nicht in der Flasche


Ein Vorwurf, der verständlicherweise von Washington bis London heftig bestritten wird. Die Begründungen dafür sind dennoch suspekt: Schlechte Qualität der Bilder, fehlende Dolmetscher beim Abhören der aufgezeichneten Gespräche, unter anderem zwischen den direkten Verantwortlichen bei der Planung des Angriffs - etwa zwischen Mladic und Milosevic bzw. mit dem Generalstabschef der serbischen Armee General Momcilo Perisic.

Ein desinteressiertes holländischen Bataillon

Holland sieht sich in diesem Vertuschungsmanöver der Großmächte als Bauernopfer. Wohl hätten sowohl die USA als auch Großbritannien schon Anfang Juni von dem Angriff Kenntnis gehabt, diese Information jedoch nicht an die holländischen Blauhelme weitergeleitet. Dies behauptet der ehemalige niederländische Verteidigungsminister Joris Voorhoeve..

Dies ist wenig glaubwürdig.
Schon am 8. Juni, einen Monat vor dem Fall der Enklave, hatte die bosnische Armee ein dringendes Treffen mit dem „Dutchbad", den seit 1994 zum Schutz Srebrenicas stationierten rund 400 holländischen Soldaten gefordert. Dem holländischen Komandanten Karremans wurde dabei ein erwarteter Frontalangriff der Serben mitgeteilt.
Doch der zeigte sich wenig beeindruckt.
Er erwartete, wie er bereits im Juni den Verantwortlichen mitteilte, daß die bosnische Arme im Fall eines Angriffs stark genug sei, Srebrenica vor dem Fall zu bewahren.

Unterhosen und konfiszierte UN-Fahrzeuge

Doch ob mit oder ohne Vorinformation: Die Peinlichkeit der hasenfüßigen Oranje-Truppe war - auch unter Berücksichtigung des eigenen Schutzes - kaum noch zu toppen. Zeugen berichteten, daß sich viele Blauhelme in Srebrenica bis auf die Unterhosen von den Serben entkleiden ließen, damit diese mit deren Uniformen später die Muslime als vermeintliche „UN-Soldaten" in den Hinterhalt locken konnten.

Weiße UN-Fahrzeuge wurden gekapert, Gewehre und Panzerwesten konfisziert und 30 holländische Soldaten von Mladic erneut als Geiseln in Bratunac, einer nahen unter serbischer Kontrolle stehenden Gemeinde, festgehalten.


Karremans - das Symbol eines mißverstandenen Mandats


An der Spitze der holländischen Schutzmacht stand ein arroganter und selbstherrlicher Thomas Karremans, von dem Serbengeneral Mladic kurz vor dem Angriff auf Srebrenica und zur Abwägung aller Störfaktoren ein Psychogramm anfertigen ließ. Mladic konnte mit dem Ergebnis zufrieden sein. Karremans wurde als feiger Bürokrat mit niedriger militärischer Moral charakterisiert.
Mit dem UN-Mandat, die Bevölkerung der Enklave zu schützen, konnte er sich offenbar nur schwer identifizieren. Seine Ressentiments gegenüber den Muslimen waren offensichtlich.
Selbst die Verteilung von Bonbons an die Kinder wurde seinen Soldaten strikt verboten.
Als das Krankenhaus in Srebrenica angesichts der zahlreichen Verwundeten während der serbischen Bombardierung um medizinische Hilfe bat lehnte er dies mit dem Hinweis ab, man sei ausschließlich verpflichtet, den holländischen Soldaten Hilfe zur Verfügung zu stellen.
Unbarmherzig lehnte Karremans auch die Bitte seines langjährigen Dolmetschers Hasan Nuhanovic ab, dessen Vater und Bruder zu retten. Beide wurden von holländischen Soldaten den Serben übergeben und später getötet.
2011 sprach ein Gericht in Den Haag Holland dafür schuldig.
Das Ego des Kommandanten der holländischen Truppen erwies sich als fataler Fehler. Informationsquellen aus der Bevölkerung lehnte er strikt ab. Als am 18.3.1995 zwei neue Männer des britischen Geheimdienstes in Srebrenica ankamen und Kontakt mit den Muslimen in der Enklave suchten, soll Karremans ihnen dies wütend verboten und sogar gedroht haben, sie aus der Enklave zu vertreiben.


Der merkwürdige Versuch einer Bombardierung

Die verzweifelten Rufe des holländischen Kommandanten nach „Nato-Luftunterstützung" setzten erst ein, als er tagelang die Situation fehleingeschätzt hatte und davon ausging, die Serben wollten nur die Umgebung Srebrenicas freikämpfen um einen Korridor zu den isolierten serbischen Gemeinden zu schaffen.
Das Eingreifen der Nato scheiterten aber nicht minder an der Hinhaltetaktik der UN-Verantwortlichen in Zagreb. Erst am 11. Juli, als die Stadt bereits in den Händen der Serben war und General Mladic diese „seinem Volk als Geschenk überreichte" warfen 2 holländische F 16 Kampfflieger Rauchbomben über Srebrenica ab. 2 Stunden später flogen 2 amerikanische F-16 über der Stadt - mit der strikten Anweisung nur die Artillerie anzugreifen, die Feuer auf die Posten der UN eröffne. Letztere, so schreibt David Rohde in seinem Buch, hätten ihre Bomben mangels Zielführung aber nicht abwerfen können - von den beiden holländischen Flugkontrolleuren habe sich einer parallisiert vor Angst nicht mehr bewegen können, der zweite sei schreiend auf dem Boden gelegen und habe geschrien: ich will nicht sterben.


Erfolgreiche Erpressung
Mladic hatte zwischenzeitlich längst auf sein bewährtes Szenario zurückgegriffen. Die holländischen Geiseln mußten aus Bratunac ihre Base anrufen und ihre bevorstehende Erschießung ankündigen, falls die Nato weiter bombardiere. Karremans wurde von Mladic wütend gefragt, .."ob er seine Familie wiedersehen möchte"..Den TV-Kameras in aller Welt präsentierte sich Mladic dagegen als humaner Sieger: Das Sektglas in der Hand stieß er mit Karremans an, den Kindern schenkte er Schokolade, den Einwohnern Srebrenicas versprach er eine sichere Evakuierung in ihr eigenes Territorium.

Um 16.30 Uhr wurden die Angriffe einstellt. Srebrenica sei gefallen, meldete der Spezialbeauftragte des UN-Generalsekretärs für das ehemalige Jugoslawien, Yashushi Akashi, nach New York.

Freie Fahrt in den Tod

Ein mental überforderter Karremans akzeptierte widerstandslos, als Mladic am 12. Juli forderte, die rund 30 000 muslimischen Männer und Frauen, die in der UN-Base Potocari nahe Srebrenica Zuflucht gesucht hatten, ausschließlich unter serbischer Aufsicht zu evakuieren. Sogar 30 000 Liter Diesel für den Transport stellten die erniedrigten und demoralisierten Holländer den Serben zur Verfügung.
Zeugen berichten, daß die holländischen Beschützer sogar dabei halfen, wehrpflichtige Männer von Frauen und Kindern zu trennen.
Dies, obwohl die meisten von ihnen längst beobachtet hatten, daß in dem „berüchtigten weißen Haus" nahe der Base Dutzende von Männern ermordet worden und in einen nahen Fluß geworfen worden waren.
Die überforderten Blauhelme hatten nur eines im Sinn: So schnell wie möglich weg!
Als die Todestransporte mit den schreienden und um Hilfe rufenden Männern aus Potocari abfuhren, wußten diese vermutlich, daß dies ihre letzte Fahrt sein würde. Am 17. Juli war der Völkermord beendet.


Ein Nachspiel als Feigenblatt für die Geschichtsbücher

Was folgte war der Versuch der Großmächte, die eigene Schuld am Tod von 7000 Männern zu kaschieren. Frankreichs Präsident Chirac wollte mit französischen Soldaten die Enklave „zurückerobern" und forderte bei deren Stationierung die Luftunterstützung der USA. Andernfalls drohte er mit dem Abzug der französischen UN-Soldaten aus Bosnien. Weder Washigton noch London stimmten diesem Plan zu.

Der Friedensplan für Bosnien war jedenfalls unter Dach und Fach. Srebrenica wurde serbisches Territorium, wenige Tage später eroberten die Serben auch die Schutzzone Zepa. Gorazde konnte gerettet werden.

Doch am Ende sei die Frage erlaubt: Wer soll all dies den Müttern, Vätern und Söhnen erklären, die in diesen Tagen vor den Mahnmalen ihrer grausam hingerichteten Familienangehörigen trauern..

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Vorgaben aus Moskau, Verschwörungstheorien und abgesprochene Fragen - das erlebte ich als Reporter bei "Sputnik"

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Nach ein paar Jahren in der "Freelancer Hölle", nicht zu wissen wann die nächste Gehaltszahlung kommt oder ob ich meine Ausgaben bezahlen kann, machte mich eine Werbung bei einer Jobbörse für Journalisten neugierig. Eine Firma namens "Ria Global" suchte einen erfahrenen Reporter.

Nach wenigen Minuten Googeln fand ich heraus, dass sich dahinter das Washingtoner Büro der staatlichen russischen News-Website "Sputnik" verbarg.

Ich war neugierig. Also schickte ich einen Lebenslauf, machte einen Schreibtest und wurde am Ende zum Bewerbungsgespräch eingeladen.

Ich setzte mich in einen Konferenzraum. Mir gegenüber saß ein großer Mann mit russischem Akzent, der vermutlich nicht viel älter war wie ich. Er fragte:

"Wie würden Sie sich fühlen, ausgehend von dem, was in den Nachrichten berichtet wird, für eine russische, staatlich geförderte Nachrichtenagentur zu arbeiten?"

Ich antwortete, dass ich kein Problem damit hätte - solange ich die redaktionelle Unabhängigkeit - wie in jedem anderen Medienunternehmen - bekäme.

Denn es gibt viele hervorragende, staatlich geförderte Nachrichtenorganisationen, wie die BBC, "Voice of America", "Agence France Press" und "Al Jazeera". Alle machen gute Arbeit.

Mein Gesprächspartner erklärte, dass "Sputnik" nicht anders sei. Und und dass ich dort nichts anderes tun würde, als bei jeder anderen Nachrichtenorganisation auch.

Zu meiner Überraschung bekam ich die Zusage



Dann stellte er noch eine Frage:

"Was würden Sie tun, wenn wir Sie sie bitten würden, etwas zu schreiben, was nicht wahr ist?"

Einfach Antwort: Ich sagte ihm, dass ich kündigen würde. Ausgehend von dem, was andere über "Sputnik" erzählten, dachte ich an diesem Punkt, dass ich aus dem Rennen war.

Aber zu meiner Überraschung bekam ich einige Wochen später die Zusage, dass ich "Sputniks" erster Vollzeit-Korrespondent im Weißen Haus sein werde.

Vom ersten Tag an in "Sputniks" Newsroom waren die Dinge nicht immer so, wie sie schienen:

So steht etwa im Styleguide von "Sputnik", dass jeder Artikel, der von einer eigenen Berichterstattung herrührt, unter dem Namen des Reporters veröffentlicht wird. Das ist im Grunde genommen alles - ausser wenn eine Pressemitteilung umgeschrieben wird. Ich bemerkte aber, dass mein Name aus allen eingereichten Artikeln gestrichen wurde. Als ich fragte, warum, wurde mir gesagt, dass dies bei "Sputnik" so gemacht werde - trotz dessen, was der Styleguide sagt.

Wenn ich Artikel über die russische Annektion der Krim (oder die Reaktionen der USA oder der EU darauf) schrieb, wurden meine detaillierten Hintergrundberichte durch vorformulierte Textbausteine ersetzt. Beispielsweise, dass 90 Prozent der Krim-Bewohner in einem Referendum für die Rückkehr zu Russland stimmten. Die Panzer oder die bewaffneten Männer auf den Straßen, die die Abstimmung auf der Halbinsel begleiteten, schafften es in keinen Artikel auf der Website von "Sputnik".

Bei einer Frage an Sean Spicer, dem Pressesprecher des Weißen Hauses, registrierte ich zum ersten Mal wirklich, dass die Dinge nicht ganz richtig liefen.

Ich wollte wissen, ob US-Präsident Donald Trump seine Autorität und Mittel nutzen würde, um Verteidigungswaffen in die Ukraine zu schicken, um der dortigen Regierung zu helfen, Russland aus der Krim zu drängen.

Ich erhielt die Fragen von meinem Chef



Anschließend bekam ich eine E-Mail von meinem Chef. Er wies mich, alle künftigen Fragen im Weißen Haus vorab zu klären. Seine Begründung:

"Damit wir alle den gleichen Informationsstand haben."

Ich begann also, jeden Tag meine Frageliste zu schicke. Diese wurde dann abgelehnt. Stattdessen erhielt ich seine Fragen, die oft bizarr und fernab der Realität waren.

Ein Beispiel: Nach dem Giftgasanschlag in Syrien im April saß ich während der täglichen Pressekonferenz im Weißen Haus. Ich bekam eine E-Mail von meinem Chef, die mich auf einen Artikel auf der Website von "RT" hinwies.

Darin ging es um einen amerikanischen Ex-College-Professor, der die Idee aufwarf, dass der Angriff inszeniert worden sei. Mein Chef befahl mir also, genau das bei der Pressekonferenz nachzufragen - während diese im live im Fernsehen übertragen wurde.

Während also Sean Spicer vorne stand, betete ich leise, dass er mich nicht aufrufen würde.

Zum Glück überging er mich. Als ich anschließend wieder ins Büro zurückkam, erklärte ich meinem Chef, dass ich mich bei solchen schlecht belegbaren Erzählungen unwohl fühle.

Anstatt eine dumme Frage in die Kamera zu stellen, mailte ich lieber dem Sprecher des Weißen Hauses



Allerdings erhielt ich kurze Zeit später ich eine weitere E-Mail, die schilderte, dass die Terrormiliz Islamischer Staat eine altersschwache Senfgas-Granate in der Nähe der irakischen Armee-Basis außerhalb von Mosul gezündet hatte. Mehrere US-Militärberater waren dort gewesen.

Mein Chef sagte, Moskau will, dass ich frage, warum dieser Chemiewaffenangriff die US-Regierung diesmal nicht dazu veranlasste, Raketen auf den Irak zu feuern - so wie es zuvor gegen Baschar Al-Assad in Syrien gemacht wurde, als dieser Sarin-Gas gegen seine eigenen Leute einsetzte.

Ich reichte also meine Fragen ein. Meine Chefs lehnten sie ab und ich erhielt neue, noch sonderbarere zurück.

Als Trump beispielsweise die Hilfsgelder für die Ukraine senken wollte, sollte ich fragen, ob die Einsparungen - die Teil größerer, umfassender Kürzungen der US-Regierung waren - wegen der nicht näher bezeichneten "Korruption" in der ukrainischen Regierung veranlasst wurden.

Doch anstatt mich selbst zu demütigen, indem ich so eine dumme Frage in die Kamera stellte, mailte ich lieber dem Sprecher des Weißen Hauses. Ich war wenig überrascht, dass ich keine Antwort erhielt.

Derweil musste ich kämpfen, meinen Namen über meine eigenen Artikel setzen zu können. Die seltsamen unvollständigen Hintergrundabsätze - die meine Chefs "die russische Perspektive" nannten - wurden aber nach wie vor in meine Artikel eingefügt.

"Trumps Budget ist so grausam, dass sogar ein russisches Propaganda-Medium das Weiße Haus gerade rückt"



Ich konnte aber auch einen Erfolge verbuchen: Während einer Pressekonferenz mit Trumps Etatdirektor Mick Mulvaney fragte ich: "Welchen Sinn macht der Vorschlag, Migranten-Familien mit nicht-registrierten Eltern von einer Steuer für den Nachwuchs auszuschließen, wenn diese Kinder US-Bürger sind?"

Ein Kolumnist der "Washington Post" bemerkte den Austausch und identifizierte mich als "Sputnik"-Reporter. Später schrieb er: "Trumps Budget ist so grausam, dass sogar ein russisches Propaganda-Medium das Weiße Haus gerade rückt".

Das hat meine Chefs nicht glücklich gemacht. Denn der Grund, warum sie die Verfasser der Artikel verschweigen, ist, dass so niemand für die Fehler, Lügen und Halbwahrheiten verantwortlich gemacht werden kann. Als ich dann als Sputnik-Reporter für das Weiße Haus identifiziert wurde, waren sie nicht glücklich .

Mir ist nicht wohl, solche Fragen zu stellen



Einige Tage später wurde ich zu einem Treffen mit meinem Chef und einem anderen Mann, den ich nie zuvor getroffen hatte, gerufen. Dieser wesentlich ältere Mann sprach ebenfalls mit einem russischen Akzent. Es stellte sich heraus, dass er der Chef des Washingtoner Sputnik-Büros war. Er sagte:

"Wenn der Präsident zurück aus Europa ist, wollen wir, dass du nach dem Seth-Rich-Fall fragst."

Seth Rich war ein Mitarbeiter des Nationalkomitees der Demokratischen Partei. Er wurde in der Nähe seines Hauses in Washington während eines schief gegangenen Raubüberfalls ermordet. Aber viele Anhänger der amerikanischen Rechts verfolgen die These, dass er derjenige gewesen war, der die Tausenden parteiinternen E-Mails an WikiLeaks während der US-Wahl 2016 übergab. Und dass er deswegen ermordet wurde. Doch dafür gibt es keinerlei Beweise.

Ich antwortete, dass mir nicht wohl ist, solche Fragen zu stellen. Über Dinge, die jeder Grundlage entbehren. Sogar Fox News hatte kurz vorher Abstand zu dieser Geschichte genommen.

Doch meine Chefs ließen mich nicht gehen. Denn wenn die Leute glauben, Rich war der Whistleblower, würde das die Schuld von den russischen Hackern nehmen, die von den US-Geheimdiensten dafür verantwortlich gemacht werden.

Ich fing an zu sprechen. Aber bevor ich überhaupt klären konnte, dass ich unter solchen Bedingungen nicht weiter arbeiten konnte, unterbrach mich der ältere Mann:

"In diesem Fall haben wir hier Ihren Kündigungsbrief."

Ich hakte nach, ob ich gefeuert wurde weil ich mich weigerte Lügen zu verbreiten oder ob es einen anderen Grund gab.

Doch beide "Sputnik"-Chefs erklärten nur, dass sie mir keinen Begründung geben müssten.

Das sind keine Nachrichten - das ist Propaganda



Ich sammelte meine Sachen zusammen. Dabei fühlte ich, wie sich das Gewicht von etlichen Monaten unerträglicher Bedingungen von meinen Schultern löste. Ich verließ das "Sputnik"-Büro zum letzten Mal.

Das Motto von "Sputnik" lautet: "Telling the Untold" - das Ungesagte sagen. Auch das Management sagt, dass es darum geht Geschichten zu erzählen, die von den Mainstream-Medien ignoriert werden und eine "alternative Perspektive" zu bieten.

Das ist nicht schlecht und ein hehres Ziel.

"Al Jazeera" wird von der Regierung von Katar finanziert. Auch sie arbeiten darauf hin, Geschichten zu vermelden, die von anderen Medien ignoriert werden und eine andere Sichtweise auf die Nachrichten zu geben. Sie machen einen hervorragenden Job - wie viele der anderen staatlich finanzierten Medien auf der ganzen Welt.

Wenn aber das Ungesagte gesagt wird obwohl es Mist ist und die "alternative Perspektive" auf Lügen und Halbwahrheiten basiert, dann sind das im Ergebnis keine Nachrichten. Dann ist das Propaganda.

Der Text wurde von Marco Fieber übersetzt.

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Oft schauen wir auf gesellschaftliche Entwicklungen nur aus einer abstrakten Perspektive: Experten sprechen über Probleme anhand von Studien. Politiker loben, was gut läuft, anhand von grauen Statistiken - all das hat mit dem Alltag der Menschen, die von diesen Entwicklungen betroffen sind oder sie prägen, oft wenig zu tun.

Diese Menschen kommen jetzt in der HuffPost zu Wort. Denn wie fühlt sich Armut in einem reichen Land jenseits der Statistiken an? Wie sieht Deutschland aus der Perspektive eines Obdachlosen aus? Vor welchen Problemen steht ein gerade angekommener Flüchtling? Wer hat mit seiner Initiative ein gravierendes Problem gelöst? All das ist Thema in HuffPost-Voices.

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Tief geschürft

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Tief geschürft
Hilary Mantels "Hilfsprediger" auf Deutsch

"Der Hilfsprediger" ist die Geschichte einer Befreiung. Hilary Mantel beginnt ihren Roman englischgrau und lässt ihn strahlend hell enden.

In den fünfziger Jahren des Zweiten Weltkriegs herrschen in einem Kaff in Nordengland Lähmung, Langeweile, Engherzigkeit und Engstirnigkeit. Vater Angwin, der Hirte der katholischen Gemeinde, hat sich eingerichtet und trägt seinen Teil zum Elend redlich bei. Zentrum der Misere aber ist ein kleines Frauenkloster mit angeschlossener Schule. Dort unterrichtet unter anderem Schwester Philomena. Sie ist jung und es macht ihrer Oberin Freude, sie zu schikanieren. Hilary Mantel exzelliert darin, die Mechanismen der Schurigelei so überzeugend zu schildern, dass der Leser sich an "La Religieuse" ("Die Nonne", Denis Diderot,1796) erinnert.

Ein Hilfsprediger kommt, ebenfalls jung, scharfsinnig, und unterstützt Schwester Philomena dabei, sich zu befreien. Das geschieht Schritt für Schritt und gibt Raum für die Darstellung der alleralbernsten Verstrickungen, die der Glauben und eine fehlgeleitete Theologie bereithalten, um junge Mädchen (und nicht nur sie) in die Irre und Abhängigkeit, Unfreiheit, ins Elend und in Depressionen zu führen. Hilary Mantel überzeugt durch Detailgenauigkeit. Allein die Schilderung der Kleidung und der Wäsche der jungen Nonne sind ein Meisterinnenstück und weisen auf ein ausgeklügeltes System körperfeindlichkeitsgestützer Unterdrückung.

Auf dieser Folie strahlen die kurzen, wenigen Seiten der Befreiung aus diesem Gespinst um so heller.

Obwohl der Kosmos des englischen Katholizismus gezeichnet wird, hat man den Eindruck, dass Hilary Mantel den Puritanismus (als Wesen der Engländer) beschreibt und dabei in die Tiefe geht. Das Wetter trägt zur Depression bei, der Regen, der Mangel an intellektueller Redlichkeit, die Dürftigkeit - und die Anlehnung an die besten Traditionen der englischen Literatur. Hilary Mantel verflicht den realistischen Handlungsstrang mit mythischen und fantastischen Fäden - der Hilfsprediger, der dem Roman im Deutschen den Titel gibt (engl.: "Flood", der Name des Mannes, der sich als Theologe ausgibt), ist mutmaßlich der Teufel: und er ist nicht der einzige in Fetherhoughton (so der Name des fiktiven Ortes der Handlung). Fetherhoughton ist die Hölle, das Zentrum das Kloster und die Oberin verschwindet aus dieser Welt in einem rätselhaften Feuer, über das man nur raunen kann.

Wie Hilary Mantel Analyse und Unterhaltung, Kenntnis und Einfühlung verbindet, das ist meisterhaft. Als männlicher Leser habe ich so viel über Frauen erfahren wie lange nicht. Die Attacke gegen den Katholizismus und die Theologie überhaupt sind kraftvoll und werden von englischem Humor so sehr verstärkt, dass die Lektüre eine Lust ist.

Der Verlag hat für den Buchumschlag eine dicke Kerze gewählt. Eben ist sie ausgeblasen - schwarzer Schwalch steigt vom Docht empor. Das trifft das Zentrum des Buches. In Zeiten einer Gleichgültigkeit gegenüber religiösem Wahn, der sich als Toleranz gibt, ist es gut, dass DuMont dieses Buch veröffentlicht - und dann in einer so kompetenten, flüssigen Übersetzung wie der von Werner Löchner-Lawrence.

Hilary Mantel gilt als hervorragende Erzählerin unserer Epoche, sie ist mit Lorbeer überhäuft. Zwei ihrer historischen Romane über die Tudor-Zeit ("Wölfe", "Falken"), gleich zwei Mal mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, sind atemberaubend . "Der Hilfsprediger" erscheint als Studie über das Bewusstsein von Menschen, die, in Glauben und Aberglauben verstrickt, sich zu befreien suchen - als Vorarbeit über die Studien zu den Religionskriegen. Hilary Mantel wirbt nachdrücklich dafür, die Erkenntnisse, die wir inzwischen zugewonnen haben, die Aufklärung, energisch zu verteidigen. Mit dem hellen Ende verbindet sie den Optimismus, dass Befreiung möglich und beglückend ist.

Trotz alledem.
Ulrich Fischer



Hilary Mantel: Der Hilfsprediger, DuMont 2017, 207 S., gebunden, ca.23,00 €

"Die EU ist heute schon ein Staat"

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Als John Lennon in seinem Song ‚Imagine' von einer "Menschheit in Brüderlichkeit" sang, steckte das vereinte Europa noch in den Kinderschuhen. Erwachsen aus den Trümmern und Gräbern zweier Weltkriege hatten die europäischen Staaten sich auf den Weg in eine gemeinsame Zukunft gemacht.

Heute ist daraus die Europäische Union entstanden, ein großer Erfolg. Es gibt heute ein europäisches Volk. Jeder, der in einem Mitgliedsland Staatsbürger ist, besitzt gleichzeitig die europäische Unionsbürgerschaft.

Mehr zum Thema: Diese 16 jungen Menschen würden ihren Pass sofort gegen einen europäischen eintauschen

Staats- und Unionsbürgerschaft setzen heute keine gemeinsame Rasse oder Klasse, keine einheitliche Sprache oder Religion, keine Identität von Staat und Nation voraus. Das Volk ist der Souverän, von dem alle staatliche Gewalt ausgeht. Das deutsche Volk hat sich in freier Selbstbestimmung für die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas entschieden.

Europa und Nation sind keine Gegensätze



Die freie, gewählte Volkskammer hat sich im Jahre 1990 für den Beitritt zur Bundesrepublik und damit auch für Europa entschieden. Dazu wurde eine Änderungspräambel und die Neufassung des Artikels 23 Grundgesetz beschlossen. Die Europäische Union ist heute schon ein Staat. Sie verfügt über ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine Staatsgewalt.

Europa und Nation sind keine Gegensätze. Die europäische Einheit ist deshalb nur als Einheit von Volk und Staat sowohl im Vereinten Europa als auch in seinen Mitgliedstaaten vorstellbar, eben nicht als Einheit von Nation und Staat. Nation und Staat haben sich heute auseinander entwickelt wie früher einmal Staat und Religion.

Mehr zum Thema: "Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine"

Europäische Nationalstaaten sind heute demokratische Staaten, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft als Staatsbürger und in Gesellschaften unterschiedlicher Nationalitäten als Mitglieder des Vereinten Europas zusammenleben.

Pointiert und meinungsstark: Der HuffPost-WhatsApp-Newsletter


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Nicht der Nationalstaat ist das Mittel der Zukunft, sondern die Demokratie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa und seinen Mitgliedstaaten. Insofern sichert Europa das Überleben der Nationen. Nation, Staat und Europa sind nur als Demokratien im 21. Jahrhundert denkbar.



Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Er arbeitet als Anwalt in der Kanzlei Beiten Burkhardt und als Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Er veröffentlichte vor kurzem das Buch: "Mehr Demokratie in Europa - Die Wahrheit über Europas Zukunft", Tectum-Verlag Marburg 2016 - ISBN: 978-3-8288-3806-2. In Kürze erscheint: "Mehr Demokratie in Deutschland", Siebenhaar-Verlag, Berlin 2017, ISBN: 978-3-943132-58-8.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat es auf den Punkt gebracht: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen."

Aber wie kann das aussehen? Was muss sich in Europa ändern? Und welche Menschen zeigen uns, wie ein lebenswertes, innovatives Europa aussehen könnte?

Diese und andere Fragen will die HuffPost in dem neuen Ressort "Voices of Europe" beantworten.

Diskutiert mit und schreibt uns unter Blog@huffingtonpost.de.

Dein Kind gehört nicht dir. Hat es nie. Und wird es auch nie

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Sie sagt, sie muss auf die Toilette. Also stehe ich aus dem Sand auf, um sie zu begleiten, denn wir sind im Surfclub und da müsste sie sonst ganz alleine über den Parkplatz laufen, die Treppen hoch, vorbei an Kellnerinnen und Besoffenen. Und dann sind da noch so viele Autos. Und Skateboard-Fahrer. Und Inline-Skaters.

Doch sie ist schon ohne mich losgelaufen.

Langsam folge ich ihr über die Dünen, immer darauf bedacht, dass genug Abstand zwischen uns ist. Ich möchte nicht, dass sie das Gefühl bekommt, dass ich denke, sie sei noch kein großes Mädchen.

Mehr zum Thema: Das passiert mit Kindern, die im Bett der Eltern gestillt werden

Im Surfclub angekommen kann ich sie nirgends mehr sehen. Ich gehe zu den Toiletten. Bei einer der Kabinen ist die Türe geschlossen, aber nicht abgesperrt. Ein Zeichen für mich: Komm rein. Ich bin hier.

Normalerweise bleiben wir immer zusammen in der Kabine



Ich gehe hinein und augenblicklich stößt mir der stechende Geruch von Urin in die Nase. Doch die Gerüche meiner Tochter empfinde ich nie als störend. Nicht als Mutter.

Sie fragt mich, ob ich ihr beim Abwischen helfen kann und obwohl sie bereits sieben Jahre alt ist und eigentlich keine Hilfe mehr braucht, helfe ich ihr trotzdem. Außerdem hat sie gerade Bauchschmerzen. Ich bin immer noch ihre Mama.

Und da wir schon mal auf der Toilette sind, nutze auch ich gleich die Gelegenheit, um meine Blase zu entleeren. Meine Tochter wartet noch einen Augenblick, dann geht sie hinaus, um ihre Hände zu waschen. Normalerweise bleiben wir immer zusammen in der Kabine.

Mehr zum Thema: Eltern diskutieren, ab wann ein Kind seine Mutter und seinen Vater nicht mehr nackt sehen sollte

Normalerweise dauert das immer ewig.

Jahre der Frustration, in denen sie mich nicht meine Hände waschen oder in der Kabine neben ihr hat pinkeln lassen, lösen sich plötzlich in Luft auf. Damals dachte ich nur "Oh Mann. Ich bin doch nicht weit weg. Gib mir doch ein bisschen Freiraum."

Sie wartet nicht mehr auf mich



Doch dieses Mal ist sie gegangen. Ich höre, wie sie den Wasserhahn aufdreht und ihre Hände mit Seife wäscht. Da ist sie sehr gründlich. Das Papier raschelt, als sie nach einem Handtuch greift. Sie hasst es, nasse Hände zu haben.

Und dann, hinter der Kabinentüre, höre ich es.

"Tschüss Mama."

Das ist alles. Dann ist sie verschwunden.

Zurück über den langen Flur, vorbei an den ganzen Betrunkenen und den schmuddeligen Surfer-Jungs, vorbei an den Kellnerinnen, die Treppen hinunter, über den Parkplatz und die Sanddünen und zurück zu ihren Freunden am Strand.

Mehr zum Thema: Psychologen erklären: Es gibt nur eine einzige Sache, die Kinder in den Sommerferien tun sollten

Sie wartet nicht auf mich.

Sie muss meine Hand nicht mehr halten.

Sie ist nicht mehr angewiesen auf mich.

Sie ist gegangen.

Ihre Freunde sind interessanter als ich.

Mein Herz schlägt wie wild und am liebsten würde ich losheulen.

Eigentlich sollte ich dankbar dafür sein, dass ich endlich in Ruhe pinkeln kann.

Ich sollte dankbar dafür sein, dass ich kommen und gehen kann.

Bin ich aber nicht. Ich bin komplett überfordert damit, dass ich nicht mehr der Mittelpunkt ihrer Welt bin.

Mehr zum Thema: Im Kindergarten eingewöhnen: Mit diesen Tipps gelingt es Kind und Eltern

Ihr ganzes kurzes Leben hat sie sich, weil sie so schüchtern ist, bei jeder Gelegenheit unter meinen Rock versteckt. Hin und wieder hat mich diese Hilfsbedürftigkeit in den Wahnsinn getrieben. "Sei doch nicht so ängstlich", habe ich mir oft gedacht und sie sachte rausgeschoben, was sie allerdings nur noch mehr in die Falten meines Rockes gedrängt hat.

Doch jetzt, an diesem Nachmittag, spielt sie mit ihren Freunden in den Dünen. Und alles, was mir bleibt, ist ein kleines Loch in meinem Herzen. Sie schaut sich nicht um. Bald schon wird sie nicht wollen, dass ich überhaupt sichtbar bin.

Sie wird sämtliche Herausforderungen alleine meistern



Sie wird sich wünschen, dass ich weit weg bin. So weit, dass ich nicht sehe und weiß, was sie macht und nicht höre, was sie sagt. Jetzt schon hasst sie es, wenn ich die Zeilen eines Liedes falsch singe.

Sie wird sämtliche Herausforderungen alleine meistern. Ganz ohne mich.

Ich habe ihre bedingungslose Liebe genossen, wenn ihre kleine Hand meine umschlossen hat. Doch jetzt plötzlich scheint es so, als würde ihre Kindheit an mir vorbeifliegen.

Ich bin nicht mehr diejenige, die alles weiß.

Sie gehört mir nicht.

Sie gehört nur sich selbst.

Langsam aber sicher bewegt sie sich von mir weg.

Und genauso sollte es auch sein.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der HuffPost US erschienen und wurde von Lisa Radda aus dem Englischen übersetzt.

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(lk)

6 Prinzipien für Ideen, die im Kopf bleiben

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Fotoquelle Titelbild: © fotolia / pixelkorn

Der Mensch ist ein kreatives Lebewesen und will Anerkennung dafür. Jeden Tag entwickeln wir eine nicht messbare Anzahl an Ideen, von denen ein Großteil jedoch bereits nach kürzester Zeit wieder verworfen oder nicht weiterverfolgt wird.

Für die Ideen, die wir mit der Welt teilen möchten, wünschen wir uns Aufmerksamkeit. Sie sollen den Menschen, mit denen wir sie teilen, im Kopf bleiben. Daher schadet es nicht, sich einmal mit der Frage zu befassen, welche Eigenschaften eine Idee haben muss, um im wahrsten Sinne des Wortes„merk-würdig" zu sein?

Aufmerksamkeit gezielt erzeugen

Es war Anfang der 1990er Jahre, als Art Silverman im „Center for Science in the Public Interest" in seinem Büro auf eine mittelgroße Tüte Popcorn starrte. Aufgrund von Untersuchungen wusste er, dass das Popcorn ungesund ist. Da die Organisation es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, die Bevölkerung über ungesunde Inhaltsstoffe in Lebensmitteln aufzuklären, war es nun seine Aufgabe, sich zu überlegen, wie man diesen Umstand der Öffentlichkeit kommunizieren könnte.

Wie erzeugt man ausreichend Aufmerksamkeit?

Die Faktenlage war eindeutig: Die mittelgroße Tüte Popcorn enthielt 37 Gramm gesättigte Fettsäuren - das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten empfahl zu diesem Zeitpunkt eine maximale Tagesdosis von 20 Gramm für einen durchschnittlichen Erwachsenen.

Der Übeltäter war Kokosfett, das zum Rösten des Mais genutzt wurde und dafür sorgte, dass das Popcorn eine schöne Farbe und einen angenehmen Geschmack bekam. Alternative Ölsorten konnten keine ähnlichen Ergebnisse erzielen, obwohl sie wesentlich gesünder gewesen wären.

Eine mittelgroße Tüte Popcorn enthielt also nahezu die doppelte Menge der empfohlenen Tagesdosis gesättigter Fettsäuren, eine „große" Tüte kam gut auf die dreifache Menge.

Silverman stellte fest, dass wohl nur wenige Menschen etwas mit der Aussage „37 Gramm gesättigte Fettsäuren" verbinden würden - und selbst wenn, dann hätte wohl kaum jemand die empfohlene Tageshöchstmenge des Landschaftsministeriums im Kopf. Er kam also zu der Aussage, dass „gesättigte Fettsäuren" kein Interesse bei der Bevölkerung wecken könnten und musste eine andere Lösung finden, diesen Umstand zu kommunizieren.

So gewinnt man die Aufmerksamkeit der Massen

Im September 1992 lud das Center Journalisten aus dem ganzen Land zu einer Pressekonferenz ein. Die Aussage war:

Eine mittelgroße Tüte Popcorn in einem typischen Kino enthält mehr Arterien-verstopfendes Fett als ein Spiegelei mit Speck zum Frühstück, ein Big Mac mit Pommes zum Mittag und ein Steak mit Beilagen zum Abendessen - zusammen.

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Für die Fernsehkameras hielten die Mitarbeiter des Instituts ein besonderes Schmankerl parat: Eine komplette Tagesration ungesundes Essen, alles zusammengepackt in eine mittelgroße Popcorn-Tüte.

Die Story erlangte landesweite Bekanntheit. CNN, CBS, NBC, ABC - alle reichweitenstarken Fernsehsender berichteten über fettiges Popcorn in ihren Hauptsendezeiten. Die großen Printmedien der USA berichteten mit passenden Headlines auf ihren Titelseiten und selbst die Talklegenden Jay Leno und David Letterman ließen es sich nicht nehmen, Witze über fettiges Popcorn in ihren Shows zu reißen.

Die Idee des Arterien-verstopfenden Popcorn blieb dauerhaft in den Köpfen der Menschen. Kinobesucher verzichteten vorübergehend auf den fettigen Snack, was schlussendlich dazu führte, dass die Kinoketten die Verwendung von Kokosfett einstellten.

Anerkennung und Aufmerksamkeit im Vertrieb

Wir Verkäufer stehen laufend vor der Aufgabe, Menschen Ideen zu „verkaufen". Wir wollen, dass unsere Argumente und Mitteilungen in den Köpfen der potenziellen Kunden möglichst lange erhalten bleiben. Auch dann, wenn zwischenzeitlich andere, konkurrierende Aussagen auf unsere Kunden einströmen, soll unsere Botschaft bestehen.

6 Prinzipien, die dafür sorgen, dass Ideen in den Köpfen der Empfänger bleiben

Die Brüder Chip und Dan Heath haben in jahrelanger praktischer und wissenschaftlicher Arbeit sechs Prinzipien herausarbeiten können, denen eine Idee folgen soll, um dauerhaft in den Köpfen der Empfänger zu bleiben.

1. Simplicity = Einfachheit

Arbeiten Sie die Kernaussage Ihrer Idee heraus! Ein Anwalt kann vor Gericht zehn exzellent ausgearbeitete Punkte zur Verteidigung seines Mandanten bringen - bei der Beratung über das Urteil wird sich der Richter nur an die wenigstens vollständig erinnern. Es geht also darum, einen Inhalt auf die Essenz zu reduzieren. Musterbeispiele dafür sind Redewendungen. Redewendungen sind in der Regel knapp und tiefgründig - dennoch könnte man sein ganzes Leben nach einer solchen ausrichten.

2. Unexpectedness = Überraschungseffekt

Wie schaffen wir es, Aufmerksamkeit für unsere Ideen zu bekommen und wie können wir diese Aufmerksamkeit dauerhaft aufrechterhalten?

Die Antwort: Der Überraschungseffekt - indem man dem Publikum etwas bietet, das es in diesem Moment nicht erwartet.

Eine mittlere Tüte Popcorn, die genauso ungesund ist wie eine komplette Tagesration ungesundes Essen!

Solche Überraschungen schärfen den Fokus und schüren unsere Aufmerksamkeit. Um eine Idee jedoch langfristig in den Köpfen der Adressaten verankern zu können, muss sie es schaffen, weiteres Interesse und Neugier beim Hörer zu wecken. Das kann erreicht werden, indem man dem Publikum Wissenslücken aufzeigt und diese mit den richtigen Antworten füllt.

3. Concreteness = Klarheit

Um unserem Publikum unsere Ideen so klar wie möglich zu vermitteln, müssen wir sie so konkret wie möglich formulieren. Viele Unternehmen scheitern an dieser Stelle mit einer Kommunikation, die meist weit entfernt von klar und deutlich ist.

Ideen, die in unseren Köpfen hängen bleiben, bestehen natürlicherweise aus einer bildhaften Sprache: vor Fett triefendes Popcorn, verstopfte Arterien, eine Popcorn-Tüte voll mit fettigen Lebensmitteln.

Auch hier kann man wieder das Beispiel der Redewendung anbringen: Meist vermitteln Sie abstrakte Wahrheiten in bildhafter Sprache: Alle Trümpfe in der Hand halten, beispielsweise.

Indem man seine Idee auf eine konkrete Bildsprache herunterbricht, erreicht man, dass alle Adressaten ein ähnliches Bild der Idee im Kopf haben.

4. Credibillity = Glaubwürdigkeit

Wie schaffen wir es, dass unsere Ideen auch angenommen werden? Einem angesehenen Arzt glaubt man intuitiv, wenn er über ein landesweites Gesundheitsproblem spricht - in der Gesellschaft genießt jedoch nicht jeder mit einer guten Idee diese Art von Autorität. Viele Ideen werden deswegen von Zahlen und Fakten getragen - in vielen Fällen sinnvoll, in einigen Fällen können zu viele Daten jedoch auch kontraproduktiv wirken.

Die Heath Brüder empfehlen eine „try before you buy" Mentalität mit der Idee zu vermitteln.

Beispiel: Anstatt mit Daten und Fakten um sich zu werfen, stellte Ronald Reagan in der Präsidentschaftsdebatte 1980 eine Frage an die Wähler: „Bevor Sie wählen, fragen Sie sich, ob es Ihnen heute besser geht als vor vier Jahren."

5. Emotions = Emotionen

Am ehesten interessiert sich jemand für eine Idee, wenn sie Gefühle in ihm auslöst. Die Popcorngeschichte löst beispielsweise Ekel oder Angst beim Adressaten aus - die Aussage „37 Gramm ungesättigte Fettsäuren" führt hingegen wohl kaum zu einem emotionalen Ausbruch.

Untersuchungen zeigen, dass wir eher bereit sind, einem einzelnen bedürftigen Individuum zu helfen als einer ganzen bedürftigen Region - Einzelschicksale wecken unsere Gefühle, Zahlen und Fakten in der Regel nur selten.

6. Stories = Geschichten

Gute Geschichten tragen dazu bei, dass ein Konzept oder eine Idee in unserem Gedächtnis bleibt.

Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass persönliche Erfahrungsberichte während Einsatzbesprechungen bei Rettungskräften dazu führen, dass zukünftige Situationen besser eingeschätzt werden können und somit Entscheidungen intuitiv besser getroffen werden.

Diese sechs Prinzipien sorgen dafür, dass Ihre Botschaften beim Kunden hängen bleiben. Die Autoren Dan und Chip Heath haben das in Ihrem Buch „Made to Stick" ausführlich erläutert. Wenn Sie wollen, können Sie sich eine einfache Checkliste zum Ausdrucken herunterladen. Damit Sie das nächste Mal, wenn Sie sich ein Argument überlegen oder eine Präsentation erstellen, nicht nur intuitiv, sondern ganz bewusst alles richtig machen.

Alle 6 Prinzipien in der Übersicht - jetzt kostenloses Merkblatt anfordern!

Von Mathematik und Genderpolitik II - Zum Tod der Mathematikerin Maryam Mirzakhani

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Zuweilen überrascht die Aktualität des eigenen Schreibens den Autor selbst. Vor wenigen Tagen ging es an dieser Stelle um Emmy Noether, die grösste Mathematikerin des 20. Jahrhunderts. Dabei war die Rede auch von der bisher grössten Mathematikerin des 21. Jahrhunderts: Maryam Mirzakhani ist die bislang einzige weibliche Gewinnerin der höchsten Auszeichnung in der Mathematik, der Fields-Medaille, die oft auch als „Nobelpreis für Mathematik" bezeichnet wird (aber nur alle vier Jahre verliehen wird und dies ausschliesslich an Personen unter 40 Jahren). Und nun erreichte uns an diesem Wochenende die traurige Nachricht, dass diese aussergewöhnliche Frau gerade einmal 40-jährig an einem Brustkrebsleiden gestorben ist. Sie hinterlässt ihren Mann, den Informatiker und angewandten Mathematiker Jan Vondrák, und eine sechsjährige Tochter.

Ihr Werdegang war geradezu märchenhaft und steht wie kaum ein anderer für die Möglichkeiten talentierter Frauen in der Mathematik heute, von denen Emmy Noether nur träumen konnte. Maryam Mirzakhani wurde 1977 in Teheran geboren, einem Staat, der im Allgemeinen nicht dafür bekannt ist, sich die Förderung der Frauen und geschlechtliche Gleichberechtigung auf die Fahnen geschrieben zu haben. Dennoch gibt es dort Spezialschulen des Staates für besonders talentierte Mädchen, die so genannten „Farzanegan Schulen". Eine solche besuchte Maryam Mirzakhani. In den Jahren 1994 und 1995 gewann sie für ihr Heimatland bei der Internationalen Mathematikolympiade jeweils die Goldmedaille. Doch schon gleich nach ihrem Bachelor-Abschluss 1999 an der Sharif-Universität in Teheran zog es sie ins Ausland, wo sie 2004 an der Harvard Universität ihre Doktorarbeit einreichte, für die sie später den „Blumenthal Award der American Mathematical Society" erhielt. Ihr Aufstieg war geradezu kometenhaft. Schon im Jahr 2008 wurde Mirzakhani auf eine Professur an der renommierten Stanford Universität berufen. Wenn das Emmy Noether nur noch erlebt hätte!

Und auch nach ihrer Berufung zur Professorin ging der Aufstieg Mirzakhanis steil weiter. Es gelang ihr in den folgenden Jahren, einige erstaunliche Sätze auf den Gebieten der Topologie und algebraischen Geometrie zu beweisen - was im Übrigen auch die Felder sind, auf denen Emmy Noether ihre bahnbrechendsten Arbeiten verfasste. So hat sich Mirzakhani insbesondere mit der Erforschung der Symmetrie von gekrümmten Flächen beschäftigt. Dabei hat sie bestimmte geschlossene Kurven auf hyperbolischen Flächen untersucht, deren Länge sich interessanterweise nicht ändert, wenn man sie verformt. Dies gilt zwar als „reine Mathematik", gab aber wichtige Impulse auch für die theoretische Physik, insbesondere für die Quantenfeldtheorien (auch dies eine interessante Parallele zu Emmy Noether). Im Jahr 2014 wurde ihr die Fields-Medaille für „herausragende Beiträge zur Geometrie und Dynamik Riemannscher Flächen und ihrer Modulräume" verliehen, wobei sie „Methoden verschiedener Gebiete wie algebraische Geometrie, Topologie und Wahrscheinlichkeitsrechnung zusammengebracht hat". Eine Einführung in ihr Werk gibt es hier. Doch bereits bei ihrer Preisverteilung in Seoul, bei der sie den allergrössten Applaus von der anwesenden Mathematiker-Zunft erhielt, trug Maryam Mirzakhani schwer an der Diagnose ihrer Krankheit.

In ihrem Heimatland wurde der Tod Mirzakhanis mit Trauer, aber auch mit Stolz und Lobeshymnen auf ihre Leistungen aufgenommen. Zahlreiche Tageszeitungen führten ihr Bild auf der ersten Seite, und Präsident Hassan Rohani persönlich bezeichnete die Nachricht als „herzzerreissend". Trotz ihres westlichen Lebensstils war sie im Iran eine populäre Figur, seitdem sie als erste Frau überhaupt den höchsten Berg der Mathematik erklommen hatte. Damals hatte sich Rohani unmittelbar nach der Verleihung der Fields-Medaille ebenfalls persönlich per Tweet gemeldet um ihr zu gratulieren und daraufhin eine Kopftuchdebatte ausgelöst. Denn mit dem Tweet veröffentlichte er zwei Bilder der Geehrten. Eines zeigte sie mit ihrer in der Öffentlichkeit bekannten Kurzhaarfrisur, das andere mit Kopftuch. Kleidungsvorschriften sind für Frauen in Iran sehr streng, und Verstosse gegen die Kopftuchpflicht werden bis heute mit Gefängnis und zuweilen sogar Peitschenhieben bestraft. Die nationalen iranischen Medien berichteten damals grösstenteils kritisch über Rohanis Nachricht und dem Bild der Mathematikerin ohne Kopftuch. Doch bekam der Präsident von vielen Seiten auch Zuspruch, dass er Mirzakhanis Leistung über ihr fehlendes Kopftuch gestellt hatte. Und so soll es auch sein: Im 21. Jahrhundert werden Frauen nach ihrer Leistung und nicht ihrer Bekleidung oder ihres Aussehens wegen beurteilt. Heldinnen wie Maryam Mirzakhani erinnern uns daran und inspirieren uns dazu, auch wenn wir heute in erster Hinsicht um sie trauern.

Ein Schotte wie aus dem Bilderbuch

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Visit Scotland © Copyright Karl-Heinz Hänel Drumtochty Highland Games © Copyright Karl-Heinz Hänel

Wer nach Schottland reist, willen auch "echte Schotten" sehen

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und na klar am liebsten noch mit einem von denen ein Selfy machen...

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Eine Reise durch Schottland ohne Schottenröcke, das geht doch gar nicht...

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Ein Kilt ist traditionell Männern vorbehalten. 1631 tauchte eine Tunika in einem Stich zu dem Bürgerkrieg auf. Nach der schottischen Niederlage in der Schlacht von Culloden wurden Kilts und Plaids als Element schottischer Identität im Disarming Act von 1746 verboten und erst 1782 wieder erlaubt. Quelle Wikipedia

Der Kilt erlebte seine Renaissance, als der britische König Georg IV. 1822 Schottland besuchte und sich im Kilt präsentierte. Fort an hat jeder Clan sein eigenes Karomuster.

Stuart MacBride © Copyright Karl-Heinz Hänel Stuart MacBride © Copyright Karl-Heinz Hänel

Stuart MacBride ist ein bedeutender Sponsor der Drumtochty Highland Games.
Das Schottenmuster seines Clans sieht so aus: clan macbride

Stuart MacBride © Copyright Karsten-Thilo Raab Stuart MacBride © 2017 Copyright Karsten Thilo Raab Mortimer Reisemagazin

Und dieser Schotte unten rum...

Stuart MacBride © Copyright 2017 Energy Voice ganz ohne Kilt... Stuart MacBride © Copyright 2017 Energy Voice

Hinter jedem Kilt steht auch eine Privatperson: Stuart MacBride

Als Gründer, sowie Inhaber des Unternehmens TRINITY, war Stuart MacBride seit 1971 in der Offshore-Industrie erfolgreich. Mit Sitz in Aberdeen wurde das Unternehmen 1990 mit dem Ziel gegründet, die größte unabhängige Cateringfirma in Schottland zu werden.

Sein Sohn gleichen Namens ist übrigens der berühmte Krimi-Autor Stuart MacBride

Und was tragen die Schotten nun unter ihrem Rock? Das bleibt jedem selbst überlassen und so steht diese Frage weiterhin im Raum. Wenn Sie einen Schotten treffen, mal fragen.

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Frauen tragen übrigens so genannte kilted Skirts, kiltähnliche Röcke.

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Alle meine Foto-Features zu Scotland 2017 - Year of History, Heritage & Archaeology

Schlaftabletten-Wahlkampf und Ideenlosigkeit in den Parteien beschädigen unsere Demokratie

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Die Frage, ob Politik nur eine Bedrohung oder auch eine Chance ist, ob man sich abwenden oder einmischen soll, ob weit verbreitetes Desinteresse am politischen Leben die einzige mögliche Konsequenz oder im Gegenteil die Ursache von Demokratiedefiziten und Niveauverlusten ist, wird voraussichtlich auch künftige Generationen beschäftigen.

Aber völlig neu und hoffentlich künftig überwindbar ist das Phänomen, dass die Politik selbst, ihre führenden Repräsentanten und ihre Wahlkampfmaschinen, das Wesen des Politischen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbannen wollen.

Unpolitisches Verhalten wird von ihnen nicht nur heimlich geschätzt, weil es ihnen ihre Ruhe lässt, sondern aktiv unterstützt und selber verbreitet, bis hin zur Wahlenthaltung, die man dann hinterher als demokratiefeindlich, gesinnungslos und brandgefährlich brandmarken kann - zutreffend und heuchlerisch zugleich.

Asymmetrische Demobilisierung - oder: Wahlkampf mit Schlaftabletten



Wer das oben Gesagte für starken Tobak hält, hat sich offenbar noch nicht näher mit dem beschäftigt, was die politische Wissenschaft »asymmetrische Demobilisierung« nennt. Angela Merkel hat das Prinzip nicht erfunden (das soll schon 2006 in Katalonien geschehen sein), aber zu höchster Vollendung geführt.

Es geht um eine Wahlkampfstrategie, bei der durch das Unterlassen einer Stellungnahme zu kontroversen Themen vermieden wird, die potenziellen Wähler des politischen Gegners zu mobilisieren! Wenn man dabei nicht gleichzeitig die eigenen Anhänger einschläfert, steigt zumindest der eigene prozentuale Anteil.

Man führt sich die Absurdität dieses Wettbewerbsprinzips am besten vor Augen, indem man es in die Welt der Wirtschaft oder des Sports transferiert. Autohersteller würden nicht mehr in Forschung, Entwicklung und Werbung investieren, sondern darauf vertrauen, dass die eigene Passivität bald auch den eingelullten Wettbewerber schwächeln lässt.

Und schon steigt der eigene Marktanteil. Dieser Vergleich ist schief, weil nicht der Marktanteil, sondern der eigene Umsatz über Wohl und Wehe des Unternehmens und vor allem den Gewinn entscheidet. Das ist der Punkt: In der Politik ist das anders. Da steht der Gewinn - die Zahl der Mandate - von Anfang an fest, und zwar in höchster Höhe, und nur der Marktanteil spielt eine Rolle bei der Verteilung.

Nur unter diesen Bedingungen konnte die Idee der »asymmetrischen Demobilisierung« geboren werden. Oder nehmen wir ein Fußballspiel: Man könnte nicht nur mit der besseren Taktik das Spiel gewinnen,sondern auch, indem man dem gegnerischen Team Schlafmittel in den Kaffee kippt.

Auch dieser Vergleich hinkt, weil ja in Zeiten der asymmetrischen Mobilisierung nicht die gegnerische Mannschaft,sondern deren Fangemeinde eingeschläfert wird, die allerdings in der Politik am Wahltag durchaus die entscheidende Rolle spielt! Aber trotzdem: Kann Politik durch Verteilung von Schlaftabletten an die gegnerischen Fans - und sei es auch nur symbolisch - überzeugend und zukunftsfähig werden?

Die sinkende Wahlbeteiligung wird von dieser Strategie billigend in Kauf genommen. So weit, so schlecht. Aber wahlpolitisch kann das doch recht clever sein, oder? Zunächst ja. Wer keine Ideen präsentiert, muss sie auch nicht erläutern oder gar verteidigen! Wer die gegnerischen Scharen einschläfert, muss nicht mit letzter Kraft auch noch den letzten eigenen Anhänger aufwecken und an die Urne schleppen!

Mehr zum Thema: Studie: Der typische Nichtwähler ist sozial benachteiligt

Wer kein kontroverses Programm vorgelegt hat, muss es später auch nicht mühsam durchsetzen! Alles bleibt gut. Und die explodierende Wahlenthaltung? Sehr bedauerlich, da sollten die Leute mal in sich gehen. Aber im Grunde völlig gleichgültig. Solange überwiegend »die anderen« daheim bleiben, bedeutet Wahlenthaltung mehr Mandate »für uns«. Und das, nur das zählt.

Politisch. Finanziell wirkt sich ein Stimmenrückgang allerdings negativ aus, weil die Parteien 70 Cent pro Stimme erhalten. Aber da kann man nachhelfen, die »hohe Politik« weiß Rat: Man muss nur den Betrag pro Stimme erhöhen (aktueller Vorschlag: 83 Cent), und schon ist der Schaden repariert.

Demokratiedefizite kann man dann besorgt auf Akademietagungen erörtern: Fehlen der Demokratie die Demokraten? Wie »in Weimar«, also den Jahren der Weimarer Republik, die den Rechtsextremisten am Ende nichts mehr entgegenzuhalten hatte? Der Vergleich ist wie jeder Vergleich mit den Zwanziger- und Dreißigerjahren schief, weil die Grundbedingungen nicht unterschiedlicher sein könnten.

Aber manchmal lohnt es sich, auch auf das kleine Körnchen Wahrheit zu achten, das selbst in schiefen Vergleichen enthalten sein kann. »Asymmetrische Demobilisierung« wird der Union und speziell Angela Merkel von der Politikwissenschaft unisono für die Bundestagswahl 2009 vorgeworfen.

Wachsende Wahlenthaltung als Kalkül



Die Forschungsgruppe Wahlen sprach sogar im Fernsehen Merkel ihre Anerkennung aus, dass diese Strategie unter den gegebenen Rahmenbedingungen kaum zu verbessern gewesen sei. Das Hauptziel, dass enttäuschte Oppositionswähler zu Hause bleiben, sei erreicht worden. 2013 war es ähnlich. Aber was passiert hier mit der Demokratie?

Wer wegen Amtsbonus und hoher Sympathiewerte Konzepte für entbehrlich hält, braucht sich über den späteren Vorwurf der Ideen- und Profillosigkeit nicht zu wundern. Wer die eigenen Anhänger als Besitzstand betrachtet und nicht ständig mit neuen Argumenten versorgt, überzeugt und begeistert, muss damit rechnen, dass die Bindung zwischen Partei und Anhängerschaft immer schwächer wird und bei einer Belastungsprobe wie im »Flüchtlingsjahr« 2015 abreißt.

Wer dem politischen Gegner, ja allen Mitbewerbern, jede kontroverse Debatte erspart, muss wissen, dass er und seine Wählerschaft auf eine überraschende Offensive in keiner Weise vorbereitet sind. Wer wachsende Wahlenthaltung zum Kalkül erhebt, fördert eine Politikferne, die zu Pauschalurteilen regelrecht einlädt und die Sehnsucht nach einfachen Lösungen fördert.

Mehr zum Thema: Die meisten Deutschen trauen den Parteien nicht mehr

So gesehen sind die Erfolge der Rechten und die Schwächen des konservativen Spektrums unter anderem auch als Folge der asymmetrischen Demobilisierung zu sehen. Als ich 1966 in die SPD eintrat, gab es dort zwei große alte Männer: Wilhelm Hoegner, den Vater der bayerischen Verfassung, und den »roten Baron« Waldemar von Knoeringen, der unermüdlich dafür kämpfte, die Demokratie mit mehr Leben zu erfüllen.

Er hatte anstelle kurzer Wahlkämpfe mit vielen Werbemitteln das immerwährende »Gespräch mit jedermann« gefordert und zusammen mit jungen Sozialwissenschaftlern das streitbare Buch »Mobilisierung der Demokratie« vorgelegt. Es war den linken Studenten nicht marxistisch genug, traf aber demokratiepolitisch den Nagel auf den Kopf.

Ja, Mobilisierung ist angesagt, nicht Demobilisierung der Demokratie, mag sie auch bei ausreichender Asymmetrie parteipolitisch kurzfristig nützlich erscheinen. Die Demobilisierung gehört in die Mottenkiste der Spin-Doktoren!

Alles Fassade! Oder: Die Entkernung der Volksparteien



Dabei muss man einen Rechtfertigungsversuch natürlich gelten lassen: Die edle Aufgabe, Anhänger der Opposition zu mobilisieren, obliegt in besonderem Maße der Opposition und nicht der Regierung. Erst wenn die Opposition dies weitestgehend unterlässt, kann das Kalkül der asymmetrischen Demobilisierung aufgehen.

(...)

Erst jetzt sind wir beim Wesentlichen des Problems angekommen: Die Volkspartei SPD wurde sogar zweimal entkernt! Zunächst 2003 durch den reichlich neoliberalen Agenda-Kurs, der einerseits den Riesenmissstand einer Fünf-Millionen-Arbeitslosigkeit überwand, andererseits aber neue Missstände schuf oder verschärfte, vor allem die prekären Arbeitsverhältnisse.

Dann aber folgte die zweite Entkernung, die 14 Jahre währende Selbstanklage, mit der die SPD des 21. Jahrhunderts sich selber jede Sozialkompetenz, jedes Selbstwertgefühl, ja jede Existenzberechtigung absprach. Es war, als wolle sie ewig dem längst ausgetretenen Ex-Vorsitzenden Oskar Lafontaine mit einem ständigen »pater, peccavi« hinterherlaufen.

Ich habe es einen Landtagswahlkampf lang erlebt: freundliche Stimmung in Bierzelten und auf Volksfesten, nur an ein, zwei Tischen wurde lautstark geschimpft, die SPD habe seit Hartz IV jede soziale Glaubwürdigkeit verloren. Das war der jeweilige SPD-Ortsverein!

Dabei sind Sozialdemokraten nicht so unversöhnlich, wie es manchmal scheint. Jedenfalls nicht, wenn es opportun ist. Am Tag der Wahl von Martin Schulz zum neuen Vorsitzenden und zum Kanzlerkandidaten trat Frank-Walter Steinmeier das höchste Amt der Republik an.

Da posteten die linken Wortführer der SPD alle Selfies, die sie je mit ihnen machen konnten, obwohl Martin Schulz sämtliche Beschlüsse zur Agenda 2010 an prominenterStelle mitgetragen hatte und Frank-Walter Steinmeier fraglos der Verfasser und Manager der Agenda 2010 war. So schlimm ist der Verrat an der Geschichte und der Aufgabe der SPD dann wohl doch wieder nicht.

Hätte das Desaster vermieden werden können? Ich denke: Ja. Wenn Schröder den Sparzwang als bittere Pille verabreicht und nicht als genialen Wurf seiner Wirtschaftspolitik gepriesen hätte.

(...)

Parlament und Parteien auf der Flucht vor Politik



Das Desinteresse an Politik, das im Jahr 2016 zu erschütternden Rekordwerten bei der Wahlenthaltung geführt hat, verdankt sich nicht nur der »asymmetrischen Demobilisierung« sowie der Selbstdemontage der Sozialdemokratie.

Über viele Jahre hinweg drängte sich geradezu der Eindruck auf, dass sich das Parlament und die dort vertretenen Parteien auf die Flucht vor der Politik und ihren heißen Themen wie Krieg und Frieden, Flüchtlinge, Euro-Krise, und so weiter und so fort, begeben haben.

Das klingt widersinnig und ist es auch in hohem Maße. Natürlich wird im Parlament tagtäglich Politik gemacht, nachzulesen in unzähligen Anträgen, Gutachten und Entwürfen sowie endlosen Protokollen. Unentwegt tagen Ausschüsse und Unterausschüsse, vorberatendeFraktionen und Arbeitskreise.

Den meisten Akteuren verlangt das eine strapaziöse 60-, 70- oder 80-Stunden-Woche ab, Politik rund um die Uhr, Politik auch am Wochenende. Das ist sicherlich, neben der schlechten Presse, auch die Hauptursache dafür, dass sich so wenige Menschen um ein Mandat reißen; die Arbeit ist einfach zu viel.

Aber es klingt halt besser, wenn man als kritischer Kopf die Politikverweigerung mit ethischen Ansprüchen, intellektueller Überlegenheit oder tugendhafter Ablehnung angeblich gigantischer Privilegien begründet.

Es stimmt schon: Politische Arbeit wird unermüdlich geleistet, doch bei all dieser beschwerlichen Betriebsamkeit kommt mehr Quantität (der »Papiere«, der Beschlüsse und Vorlagen und Protokolle) als Qualität heraus.

Wann wird denn der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht, Alternativen herauszuarbeiten für Richtungsentscheidungen in zentralen Politikfeldern, die das Wahlvolk treffen darf und treffen soll? Spricht es nicht Bände, dass die ersten Ideen für die künftige Politik exakt dann veröffentlicht werden sollen, wenn der Bundestag nicht mehr zusammentritt? Also keine Debatte über Zukunftsfragen im Parlament, nur auf Werbemitteln und vor eigenen Anhängern?

Ich erinnere mich noch an die Rundfunkübertragung der großen Bundestagsdebatte über die Wiederbewaffnung. Die ganze Familie hatte sich ums Radio versammelt, ich saß als kleiner Dreikäsehoch dabei. An die Reden von Konrad Adenauer und Erich Ollenhauer kann ich mich noch erinnern, genauso wie später - ich war schon Student - an manchen Schlagabtausch zwischen Franz Josef Strauß und Willy Brandt über die Ostverträge.

Aber es musste gar kein Politgefecht geboten werden; bewegend und Respekt einflößend waren auch die von den Fraktionen ohne jeden Zwang ermöglichten Grundsatzdebatten über den Paragrafen 218 und über die Hauptstadtfrage »Bonn oder Berlin?«. Sternstunden des Parlaments.

Man konnte sich nicht nur auf einer Seite verstanden fühlen, sondern auch über die andere Seite entrüsten. Und es musste nicht einmal kontrovers zugehen, um nachhaltigen Eindruck zu machen.

Pointiert und meinungsstark: Der HuffPost-WhatsApp-Newsletter


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Die Antrittsrede von Willy Brandt als Bundeskanzler begleitet uns mit vielen Programmpunkten heute noch, ebenso wie die Gedenkrede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bundestag zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs.

Das Parlament war die Bühne der Nation. Es fällt trotz aller Reformversuche, die schon zur Vitalisierung des Bundestags und vor allem seiner Plenardebatten unternommen wurden, einfach schwer, den Debatten mit Interesse zu folgen, auf Gedanken zu hoffen, die man so noch nicht gehört hat und sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen möchte.

Dabei ist es nicht einmal das größte Problem, dass alle politischen Parteien ihr letztes Pulver schon in einer Serie von Talkshows verschossen haben, sodass sie für den Bundestag weder neue Argumente parat haben noch interessierte Zuhörer finden, was man den abwesenden Parlamentariern übrigens wirklich nicht ernsthaft zum Vorwurf machen kann.

Sie haben das alles ja nicht nur in der Fraktion, im Arbeitskreis und im Ausschuss gehört, sondern auch schon bei Anne Will, Sandra Maischberger, Frank Plasberg oder Markus Lanz und all den anderen.

Viel schlimmer ist, dass das Parlament nicht nur hinter anderen, schnelleren Medien her trottet, sondern dass es selber gar nicht mehr daran interessiert scheint, seine Rechte zu verteidigen, der Austragungsort politischer Kontroversen zu sein und Alternativen aufzuzeigen.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Die Alternative oder: Macht endlich Politik!"


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Verlag: Knaus
ISBN: 978-3-8135-0774-4

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Für die Leute bin ich die unhöfliche blöde Tussi - wie es ist, keine Gesichter erkennen zu können

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Einmal, als ich ungefähr 14 Jahre alt war, verließ ich das Haus und stieß mit meinem Nachbarn zusammen. Er ist ein netter, sympathischer Mensch, er lächelte und wir liefen gemeinsam zur U-Bahn-Station und unterhielten uns über unsere Pläne für die Ferien.

Als sich unsere Wege dort trennten, fragte er nach meiner Nummer. Und plötzlich war es gar nicht mehr mein Nachbar, sondern nur irgendein älterer Typ mit Glatze, der mir jedoch versicherte, dass er regelmäßig seinen Rottweiler vor unserem Haus ausführte...

Meistens nutze ich meine Gesichtsblindheit, Prosopagnosie, um andere mit Geschichten wie dieser zum Lachen zu bringen. Geschichten von Verwechslungen, in denen ich mich immer aufgrund der Tatsache, dass ich andere Menschen nicht erkennen kann, in peinliche Situationen bringe und mich selbst zum Narren mache.

So kann ich meine Erkrankung am besten in eine Unterhaltung einbringen, wenn ich neue Leute kennenlerne. Niemand steht darauf, wenn jemand, den man kaum kennt, Geschichten erzählt, die zu sehr auf die Tränendrüse drücken. Diese Selbstschutzstrategie hat dazu geführt, dass ich lange nicht begriffen habe, was mir diese Erkrankung abverlangt, besonders, als ich noch jünger war.

Enge Freunde erkenne ich nach ungefähr 6 Monaten



Denn werft mal von weitem einen Blick auf die Geschichte. Die Menschen lachen, wenn ich die Story erzähle, aber es ist auch beängstigend. Wie viele andere 14-jährige Mädchen, die grade langsam zu einer Frau heranwachsen, machte mir die plötzliche Aufmerksamkeit, die ich jetzt von Männern bekam, Angst.

Man rief mir Dinge nach, wenn ich auf der Straße an Gruppen von Männern vorbeiging und ich erschauderte innerlich. Ältere Männer, die einfach so ein Gespräch mit mir begannen, versetzten mich in Panik. Auf einmal begehrte mich die Welt und gleichzeitig war sie ein Minenfeld. Natürlich war ich unsicher. Und dann spazierte ich ganz entspannt mit einem Typen durch die Nachbarschaft, der ein paar sehr gefährliche Hunde besitzt.

Meine Prosopagnosie ist nicht die Schlimmste, aber sie ist schon ziemlich übel. Die Ärzte, die mir als Kind die Diagnose stellten, platzierten mich in den unteren 0,01 Prozent der Bevölkerung, aber auch nur deshalb, weil die Skala nicht weiter runter reichte.

Ich kann Menschen erkennen, wenn ich sie eine Weile kenne. Enge Freunde erkenne ich nach ungefähr sechs Monaten, andere Freunde und Bekannte nach ein oder zwei Jahren. Ich habe noch Glück gehabt, andere Erkrankte erkennen nicht einmal ihre engste Familie.

Ich habe Mechanismen entwickelt, mit denen ich mich durch die Welt bewegen und mir Menschen merken kann, aber sie sind immer noch anfällig für Pannen. Ich schreibe Menschen bestimmte Eigenschaften zu und merke mir diese, so dass ich weiß, um wen es sich handelt, z.B. so: Der rothaarige Typ mit der quadratischen Nase, den ich auf der Party von X getroffen habe.

Aber es muss sich nur ein Eintrag auf der Liste ändern und ich bin aufgeschmissen. Manche Menschen, oft sind es die attraktiven ohne hervorstechende Merkmale, erkenne ich überhaupt nicht.

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Evie als Kind.

Ja, die Prosopagnosie beeinflusst mein Leben in großem Maße, und ich beginne grade erst, damit klar zu kommen. Der erste Vorfall, an den ich mich erinnere, ereignete sich, als ich mit ungefähr 8 Jahren die Schule wechselte. Natürlich erkannte ich niemanden, aber ich war mir der Tatsache bewusst, dass in meiner Klasse zwei kleine blondhaarige Jungs waren.

Einer war unheimlich nett zu mir, er schenkte mir an meinem ersten Tag eine Pokemonkarte (Evee, das passte zu meinem Namen). Der andre war unnahbar, er war der Sohn der Direktorin. Einem war ich dankbar, der andere machte mir Angst. Ich kann euch gar nicht beschreiben, was es mir für einen Stress bereitete, die beiden auseinanderzuhalten.

Auf der weiterführenden Schule wurde es noch schlimmer. Nicht zu wissen, wer deine Freunde sind, macht dich ganz schön einsam. Besonders, wenn du ein paranoider Teenager bist, der grade in die Pubertät kommt.

Zwischen starkem Selbstbewusstsein und großer Verlorenheit



Jeder macht sich als Jugendlicher darüber Sorgen, was andere wohl über einen denken könnten. Ich konnte nicht einmal auf frühere Erfahrungen zurückgreifen, die mir sagen konnten, wie Menschen so sind oder was sie über mich denken.

Nicht zu wissen, wen man auf dem Schulflur anlächeln oder mit wem man sich in der Pause zusammensetzen konnte, welche Klassenkameraden nett sind und wer dich einen hoffnungslosen Fall nennt, ließ mich ständig zwischen starkem Selbstbewusstsein und einer großen Verlorenheit hin und her schwanken.

Ich denke, dass mir diese Erfahrung auf gewisse Weise geholfen hat. Als Teenager nahm ich immer ein Buch mit, wohin ich auch ging. Ich fürchtete mich vor dem Moment, in dem ich nicht mehr wusste, mit wem ich reden konnte. Jeder sieht, dass du ausgegrenzt bist. Wenn man liest, sieht es wenigstens so aus, als wäre es gewollt. Heute brauche ich diese Stütze nicht mehr, aber ich liebe es auch heute noch zu lesen.

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Andererseits habe ich es auch meiner Prosopagnosie zu verdanken, dass ich als Erwachsene unter Menschen gelassener geworden bin. Wenn ich als Kind dazu gezwungen war, mit anderen zu sprechen, dann musste ich mich immer verstellen. Ich musste so tun, als seien wir Freunde, obwohl ich überhaupt nicht wusste, ob das nun stimmte oder nicht.

Ich glaube, als Teenager hat dieses bombastische Selbstbewusstsein auf viele aggressiv gewirkt, aber es hat mir den Weg zu dem Menschen geebnet, der ich heute bin. Heute komme ich noch oft in die gleichen Situationen: Ich spreche auf Partys mit Menschen und habe keine Ahnung, ob wir uns nicht schon einmal irgendwo begegnet sind.

Aber über die Jahre habe ich eine Art Freundlichkeit entwickelt, die sich auf verschiedene Weisen deuten lässt. Vielleicht kenne ich dich, vielleicht bin ich nur eine wahnsinnig freundlich Fremde. Womöglich werde ich selbst nie wissen, wie genau die Situation sich jetzt darstellt, aber immerhin haben wir eine schöne Zeit, also wo ist das Problem?

Für einen offenen Umgang mit derGesichtsblindheit



Auf der Uni wollte ich über meine Prosopagnosie die Oberhand gewinnen und sie kontrollieren. Als ich im zweiten Semester war, begann ich eine wöchentliche Kolumne für die Unizeitung zu schreiben, meistens spielte die Gesichtsblindheit dabei eine große Rolle.

Plötzlich wusste jeder Bescheid. Die Leute stellten sich mir jedes Mal erneut vor wenn wir uns trafen und so wusste ich gleich, ob wir uns schon einmal getroffen hatten. Es war das Paradies. Zum ersten Mal hat mich meine Gesichtsblindheit nicht ausgebremst.

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Und bis heute habe ich mich von der Krankheit nicht mehr ausbremsen lassen. Jetzt als Erwachsene gehe ich sehr offen und direkt mit der Prosopagnosie um und erzähle den Menschen davon, wenn ich das Gefühl habe, ich könnte sie vor den Kopf stoßen.

Ich versuche auch, so oft wie möglich online in Artikeln und Interviews wie diesen über die Krankheit zu berichten und sie bekannter zu machen. Ich habe keine Angst mehr davor, das "gesichtsblinde Mädchen" zu sein. Immerhin ist das besser, als immer als "die blöde Tussi, die mich immer ignoriert" zu gelten.


Dieser Artikel erschien zuerst in der HuffPost UK und wurde von Cornelia Lüttmann aus dem Englischen übersetzt.



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