
- Die Augsburger Künstlerin Juliane Stiegele hat gemeinsam mit der Organisation “Utopia Toolbox” ein Projekt gegen Einsamkeit gegründet.
- Stiegele kam die Idee, rote Punkte in Augsburg zu verteilen – die kann nun jeder, der Interesse an neuen Bekanntschaften hat, an seine Tür kleben.
Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft wie ein Schwelbrand, findet die Künstlerin Juliane Stiegele. Ein Phänomen, das sich langsam und unbeachtet immer weiter ausbreitet. Bei ihrem aktuellsten Projekt ist der Künstlerin aufgefallen, welche Ausmaße das Problem bereits angenommen hat.
Für das internationale Kunstprojekt “Utopia Toolbox” hat Stiegele Bürger befragt, wie sie sich die Zukunft vorstellen und was sie gerne verändern würden.
Die Aussage eines alten Mannes habe sie zum Nachdenken gebracht.
“Er sagte, er lebe in einer Wohnbatterie, in der die Menschen Zelle an Zelle wohnen, ohne miteinander zu sprechen”, erzählt Stiegele der HuffPost. “Und dass es sein größter Wunsch wäre, dass es eine Gemeinschaft gäbe.”
Die Sätze des Mannes ließen Stiegele nicht los.
Sie begann, zu recherchieren, las, dass in England ein eigenes Ministerium für Einsamkeit gegründet wurde. Dass neun Millionen Briten sich einsam fühlen. Dass es in Deutschland überraschenderweise viele junge Frauen zwischen 14 und 20 gibt, die sagen, einsam zu sein. Zahlen zeigen, wie groß das Problem in unserer Gesellschaft ist.
Psychiater: “Einsamkeit ist die Todesursache Nummer eins”
► Laut einem Untersuchungsbericht aus Großbritannien ist Einsamkeit genauso gesundheitsschädigend wie täglich 15 Zigaretten zu rauchen.
► Der Hirnforscher Manfred Spitzer geht sogar so weit zu sagen, Einsamkeit sei “die Todesursache Nummer eins in den westlichen Ländern”.
► Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass bei einsamen Menschen das Risiko, an Altersdemenz zu erkranken, um das doppelte steigt.
► Die Professorin für Psychologie Julianne Holt-Lunstad fand in zwei großen Meta-Analysen heraus, dass Einsamkeit ein größeres Gesundheitsrisiko für die amerikanische Bevölkerung darstellt als Fettleibigkeit.
Juliane Stiegele will es in Deutschland nicht so weit kommen lassen. Sie beschloss: Wir müssen etwas tun. So kann es nicht weitergehen.
Gemeinsam mit “Utopia Toolbox” gründete sie ein Projekt: “Opendot”.

Die Idee von “Opendot”: Bewohner können einen roten Punkt an ihre Tür kleben und damit zeigen, dass sie bereit für Gespräche sind. Im Idealfall klingeln Nachbarn oder völlig Fremde an der Tür und es entwickeln sich Freundschaften.
In den vergangenen Wochen wurden schon 7000 Punkte in Augsburger Briefkästen gesteckt und an öffentlichen Plätzen verteilt.
Unter den Einsamen sind viele junge Studenten
Bisher habe das Projekt zwar schon viel Aufmerksamkeit bekommen, viele Menschen würden es aber den Einschätzungen von “Utopia Toolbox” zufolge noch nicht nutzen. Stiegele vermutet, dass die Scham groß ist.
“Wer will schon zugeben und zeigen, dass er einsam ist”.
Das Team entdeckte den Punkt bislang nur an einer einzigen Tür. Es war die Tür von Karin Eisenmann-Martin.
Die 70-Jährige sagte dem ZDF-Morgenmagazin: “Jemand, der vorbeigeht, weiß, dass er bei mir läuten kann, wenn er das Bedürfnis hat.”
“Sie wird jetzt regelrecht von Journalisten belagert”, sagt Stiegele. Aber, und das ist das Gute, nicht nur Journalisten sind auf die alte Dame aufmerksam geworden.
“Sie hat uns erzählt, dass sie nun ganz viel Besuch bekommt”, sagt Stiegele. “Besonders gerührt hat sie, dass darunter viele Studenten waren. Sie haben erzählt, wie schwer es ist, Kontakt in der Stadt zu bekommen.”
Auch das sei ein großer Irrtum: Zu denken, dass nur alte Menschen von Einsamkeit betroffen sind.
Ein roter Punkt für Europa
Das Beispiel von Eisenmann-Martin zeigt, dass Stiegeles Idee funktionieren kann. Die Künstlerin hofft, dass sich der rote Punkt über ganz Europa verbreitet.
Bisher habe immerhin schon Helsinki Interesse gezeigt, außerdem Köln, Karlsruhe und Unna. Das Team bemüht sich, das Projekt so bekannt wie möglich zu machen. Sogar ein Kinospot wurde ausgestrahlt. Auch an das Bundesfamilienministerium wollen sie sich mit ihrem Konzept wenden.
“Am besten wäre es, wenn die Stadt einen offiziellen Brief mit dem Punkt an jeden Haushalt verschicken würde”, sagt Stiegele. “Sonst besteht die Gefahr, dass die Bürger den roten Punkt für Werbung halten und einfach wegwerfen.”
Auch nach Kommunikatoren suchen sie noch. Einen haben sie bereits gefunden: Einen Studentenseelsorger, der das Projekt in einem Augsburger Studentenwohnheim vorstellen wird. Zu ihm kommen jeden Tag einsame Studenten, erzählt Stiegele.
Sie vermutet: Die zunehmende Einsamkeit der Menschen hängt mit dem Konkurrenzdenken der neoliberalistischen Gesellschaften zusammen.
“Wir leben in einer Angstgesellschaft”
Auch Stiegele selbst hat das Gefühl, dass die Menschen kaum noch miteinander sprechen, stattdessen oft alleine zuhause sitzen, fernsehen oder sich mit sich selbst beschäftigen. Sie hofft, das mit dem Team-Projekt nun endlich zu ändern.
Gewundert hat sich Stiegele beim Vorstellen ihres Projekts vor allem über eines: Ein Kommentar, der immer wieder komme, sobald sie von dem Projekt erzähle, sei: “Seid ihr wahnsinnig? Das ist ja der Freibrief für jeden Einbrecher, alte Omas zu überfallen.”
“Daran sieht man, in was für einer Angstgesellschaft wir leben”, sagt Stiegele. “In einer Gesellschaft, die etwas aus Angst lieber nicht macht, als auch mal etwas zu wagen.”
Dieser Beitrag erschien zuerst am 10.09.2018