Der kanadische Philosoph und Schriftsteller Clency Martin dachte das erste Mal im Kindesalter daran, sich umzubringen – seitdem hat ihn der Wunsch, zu sterben, nicht mehr verlassen. Insgesamt hat Martin neun Mal versucht, Selbstmord zu begehen, zuletzt vor ungefähr einem Jahr.
Zahlreiche Klinikaufenthalte später hat er einen Grund gefunden, um am Leben zu bleiben – seinen Todeswunsch hat er dennoch nicht besiegt. So lebt er mit dem wiederkehrenden Drang, nicht mehr leben zu wollen.
“Wissen Sie, was? Ihre Gefängnis-Fußfessel hat Ihnen das Leben gerettet. Sie sollten Werbung dafür machen. Wenn es diese Fußfessel nicht gäbe, wären Sie jetzt tot.”
Ich kam in einem Krankenhausbett zu mir, mein Kopf war wund. Ich griff in mein Haar und fühlte metallene Klammern in meiner Kopfhaut. Ein gutaussehender, junger, dunkelhaariger Arzt mit einem buschigen Schnurrbart und hell erleuchteten, amüsierten Augen stand an der Seite meines Bettes und sprach mich freundlich an. Ich wusste nicht, wie lange er schon geredet oder ob ich bereits geantwortet hatte. Ich schien mich dem Gespräch erst mitten drin anzuschließen.
Ich war sehr durstig. Nervös griff ich mit der einen Hand noch einmal nach den Metallklammern, mit der anderen nach einem großen Plastikbecher mit Wasser, der auf dem Nachttisch stand. Dann erst wurde mir klar, dass ich ans Bett gefesselt war.
“Warten Sie, ich helfe Ihnen”, sagte der Arzt. Er klemmte den Becher zwischen Bettrahmen und Kissen, dann steckte er mir einen Strohhalm in den Mund. Ich trank das Wasser und spuckte dann den Strohhalm aus. Meine Kehle brannte.
“Wurde ich operiert?”, fragte ich.
“Nein, Sie hatten großes Glück. Nur zwei kleine Eingriffe.” Er zeigte auf meinen Kopf. “Sie müssen hingefallen sein, Ihr Kopf blutete. Eine ziemlich hässliche Platzwunde.” “Meine Kehle tut mehr weh als mein Kopf. Meine Stimme!”, sagte ich. “Ich klinge schrecklich.”
“Wir mussten Ihren Magen auspumpen, aber im Grunde genommen geht es Ihnen gut. Es tut mir leid, dass wir Sie fesseln mussten. Wir werden Sie morgen in die Psychiatrie bringen, dann ist diese Maßnahme nicht mehr notwendig. Sie haben übrigens Ihre schicke elektronische Gefängnis-Fußfessel ruiniert.” Er lachte. “Sie scheint einen Kurzschluss gehabt zu haben. Aber immerhin hat sie vorher noch einen Alarm ausgelöst. Moderne Technologie.“
Ich wollte erklären, dass ich nicht aus dem Gefängnis kam und dass ich die elektronische Fußfessel nur hatte, um meiner Frau zu beweisen, dass ich weder Alkohol noch Drogen zu mir nehme. Aber ich merkte: Jede weitere Erklärung würde wie eine Rechtfertigung klingen.
“Steigen Sie das nächste Mal, wenn Sie so etwas machen, lieber nicht in die Badewanne. Oder besser noch – vermeiden Sie ein nächstes Mal. Wir würden Sie gerne noch ein wenig bei uns behalten. Und sollten Sie sich doch noch einmal umbringen wollen, nehmen Sie bitte keine Tabletten. Niemand stirbt mehr an einer Überdosis Tabletten. Passen Sie auf sich auf. Es wird alles besser werden.“
Der Doktor packte meinen Fuß, schüttelte ihn sanft, sogar liebevoll, zuckte dann mit den Schultern und verließ den Raum.
Nun, dachte ich, das war irgendwie nett. Das war viel angenehmer als sonst, wenn ich nach meinem Selbstmordversuch mit einem Arzt sprechen musste.
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Ich hatte schon immer Selbstmordgedanken
Von klein auf hatte ich Selbstmordgedanken. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört der Wunsch, vor einen fahrenden Bus zu laufen. Ich dachte schon im Alter von drei oder vier Jahren täglich daran, mich umzubringen, und das hörte nicht auf, bis ich Anfang 30 war. Jeden Tag, so lange ich mich erinnern kann, fantasierte ich über Selbstmord.
Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich vier Jahre alt war, und meine Mutter heiratete einen anderen Mann, der sieben Kinder hatte. Inklusive mir und meinen beiden Brüder waren wir plötzlich zehn Kinder im Haus. Eine meiner ersten Erinnerungen an diese neue, bedrohliche Familie ist die Beerdigung meines Stiefbruders Paul, der er von einem Bürogebäude in der Innenstadt von Calgary, Kanada, gesprungen ist.
Vielleicht haben meine beiden Brüder aus diesem Grund – einem Grund, der bereits viele Familien zerrüttet hatte – mit mir über Selbstmord gesprochen. Vielleicht hat einer meiner Brüder deswegen auch die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, genauso im Hinterkopf wie ich – obwohl er es glücklicherweise noch niemals versucht hat, soweit ich weiß.
Als mein Bruder und ich zusammen im Schmuckhandel gearbeitet haben, saßen wir oft da und scherzten darüber, uns umzubringen. Wenn wir in düsterer Stimmung waren, zum Beispiel, nachdem wir zusammen gekokst hatten und langsam wieder nüchtern wurden, sprachen wir über den Drang, uns selbst das Leben zu nehmen. Und dann versprachen wir uns gegenseitig, es nicht zu tun.
Wenn ich mit meiner Mutter über Selbstmord spreche, wechselt sie das Thema. Emotionen machen ihr grundsätzlich Angst, und sie glaubt, dass das Reden über bestimmte Themen diese gefährlicher macht. Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, sagte ich meinem Vater, dass ich sehr oft an Selbstmord denken würde. Er erklärte mir, dass Menschen, die sich selbst töten, in die “Astralhölle” (Zeiten, die von Pech und schlechter Stimmung gekennzeichnet sind, Anm. d. Red.) kommen.
Jedes Mal, wenn ich versucht habe, mich umzubringen, bin ich an einem schlimmeren Ort wieder aufgewacht.
Mein Vater war Anhänger der New-Age-Bewegung und glaubte an Reinkarnation sowie viele verschiedene Ebenen der Existenz. “Tu es nicht, Sohn”, sagte er ruhig zu mir. “Du stirbst nicht. Du wachst einfach an einem schlimmeren Ort wieder auf. Aber ruf mich an, wenn du wieder solche Gedanken hast. Fühlst du dich jetzt so?” Ich wusste, dass ich ihn natürlich anlügen musste: Er war schließlich mein Vater. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, merke ich, dass er Recht hatte. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, mich umzubringen, bin ich an einem schlimmeren Ort wieder aufgewacht.
Bei meinem ersten Selbstmordversuch war ich 16 Jahre alt
Das erste Mal, als ich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, war nach einem Selbstmordversuch mit 16. Damals lebte ich noch in meiner Heimatstadt Calgary. Ein Psychiater hatte mir, nachdem meine Freundin mir das Herz gebrochen hatte, Librium verschrieben, ein Medikament gegen Angstzustände.
Dennoch lebte ich damals immer noch bei meiner Ex-Freundin und ihrer Familie. Ich hatte gelogen und ihnen erzählt, dass meine Eltern mich vor die Tür gesetzt hatten – so konnte ich bei meiner Ex-Freundin bleiben und weiterhin ein Auge auf sie werfen. Dann, eines Tages, auf einem schneebedeckten Spielplatz unweit des Hauses meiner Ex, schluckte ich die ganze Packung Librium und spülte sie mit einer halben Flasche Whiskey runter.
Ich zog mich aus und legte mich in den Schnee. Der Schnee wechselte von weiß zu blau, wurde dann grün, dann rosa. Ich erinnere mich, dass mir so kalt wurde, dass ich es kaum ertragen konnte – und dann wurde ich, fast überwältigt, in eine Decke aus Wärme und Zufriedenheit gehüllt. Ich wurde ohnmächtig und hätte erfrieren sollen – aber jemand fand mich und rettete mich. Ich wachte im Krankenhaus wieder auf und verbrachte dann ein paar Tage in der Psychiatrie.
Kurz darauf warfen mich die Eltern meiner Ex-Freundin raus, und ich zog wieder bei meinen Eltern ein. Das war 1983.
1991, in Austin, Texas, in meinem ersten Jahr an der Universität, versuchte ich erneut, mich selbst zu töten, indem ich mir die Handgelenke aufschlitzte. Wieder landete ich im Krankenhaus und später in einer psychiatrischen Abteilung. Danach wurde ich mehrfach wegen Trunkenheit verhaftet.
In den 90er Jahren hatte ich ein Schmuckgeschäft, war verheiratet mit meiner ersten Frau, und ich dachte oft daran, mich umzubringen, meist schon früh am Morgen, als ich den Laden eröffnete.
Ich stand häufig vor dem Spiegel mit einer Waffe im Mund – es war eine ölig schmeckende Glock-Pistole mit einem quadratischen Lauf – alles sehr dramatisch, immer und immer wieder versuchte ich, den Abzug zu drücken.
Ich konnte es nicht tun.
1996 verließ ich meine erste Frau und kurz darauf versuchte ich wieder, mich umzubringen – mit einem Seil in einer psychiatrischen Klinik in North Carolina. Meine Alkoholsucht verstärkte sich und damit auch meine Depressionen.
Ich heiratete wieder, zog nach Kansas City, wurde mehrmals verhaftet – jedes Mal wegen Trunkenheit – und dann versuchte ich 2008, mich mit einem Bettlaken zu erhängen. Das führte zu wiederholten Besuchen in psychiatrischen Kliniken und schließlich, nach einer Affäre mit einer Kollegin, zu meiner Scheidung im Jahr 2012.
Diese lange Litanei des Scheiterns erklärt jedoch nicht viel – außer vielleicht, dass ich ein betrunkener und schlechter Ehemann gewesen bin. Mittlerweile weiß ich, dass ich damals versuchte, zu entfliehen: Mithilfe des Alkohols versuchte ich, vor mir selbst zu flüchten; ich lenkte mich mit einer Affäre nach der nächsten ab; mit jedem Selbstmordversuch floh ich vor dem Leben, jedes einzelne Mal, wenn ich meinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich gebe zu: Ich bin ein Feigling.
Entweder, ich sterbe, oder sie sperren mich ein
Ein Freund von mir hat mich kürzlich gefragt: Wie kommt es, dass du trotzdem ein normales, produktives Leben als Philosophieprofessor, Vater und Schriftsteller weiterführen kannst?
► Eine mögliche Antwort ist: Was sollte ich sonst tun? Entweder, ich sterbe, oder sie sperren mich ein. Ich lebe, und außerdem habe ich eine schreckliche Angst davor, eingesperrt zu sein.
Wie viele andere auch mache ich also das Beste aus der Situation. Meine jetzige Frau Amie, die Buddhistin ist, findet Trost in der Erkenntnis Buddhas, dass Leben Leiden bedeute: “Ich habe gelernt, dass es nicht an mir liegt. Jeder fühlt auf diese Art und Weise.”
Natürlich ist auch das Leid, entfliehen zu müssen, an manchen Tagen besser oder schlechter. Wenn es sich jemals so anfühlen sollte, als hätte man nur noch die Wahl, lebendig verbrannt zu werden oder aus einem brennenden Haus zu springen, wie David Foster Wallace es einst formulierte: ja, dann würde ich mich wohl wirklich umbringen, anstatt nur einen Versuch zu unternehmen. Heute zum Beispiel fühle ich mich ein wenig entmutigt, aber ansonsten glücklich, hier zu sein.
► Eine weitere Antwort auf die Frage meines Freundes lautet: Übung.
► Noch eine weitere ist: Abwarten. In der Vergangenheit habe ich es immer eine Weile lang ausgehalten, dann brach wieder alles zusammen wie ein Kartenhaus.
2012 wurde ich endlich trocken, seitdem wurde alles ein wenig einfacher – dennoch gab es Rückfälle und weitere Selbstmordversuche. Sie fanden zunehmend im Verborgenen statt – ich konnte den Gedanken, jemandem nochmals erklären zu müssen, warum ich wieder mal aufgegeben habe, nicht ertragen.
Meine Mitmenschen haben mich nicht aufgegeben
Ich weiß nicht, warum meine Mitmenschen mich damals nicht aufgegeben und aus ihrem Leben gestrichen haben. Sie mussten zumindest darüber nachgedacht haben. Meine erste Frau, meine zweite Frau, meine Töchter (besonders meine Ältesten, die so viel mitmachen mussten), meine Brüder, meine Kollegen an der Universität: Sie alle glaubten weiterhin an mich und unterstützten mich.
Ich war ein gereizter, hinterhältiger, unzuverlässiger, manipulativer, unverschämt egoistischer Mensch. Wie zahlt man diese Art von Schulden zurück? Wie findet man die Worte, sich für all das zu entschuldigen? Du versuchst, eine ehrlichere und vertrauenswürdigere Person zu werden, du versuchst, deine Versprechen zu halten, deine Rechnungen zu bezahlen, deinen Kindern bei ihren Hausaufgaben zu helfen, sie regelmäßig anzurufen. Versuch, nicht zu lügen. Versuch, dich dem Krankenhaus fernzuhalten. Wenn du ein Säufer bist, wie ich, hör auf zu trinken.
Du sagst deinen Mitmenschen, dass du versuchen wirst, alles besser zu machen, und dann versuchst du, alles besser zu machen. Du betest jede Nacht, dass dir eine unbekannte Kraft geschickt werden soll, die dich etwas weniger egoistisch macht.
Natürlich ist es kein Zufall, dass ich die Arten von Selbstmord wähle, die nicht zum sicheren Tod führen. Andererseits allerdings besaß ich Zeitweise eine Waffe und ich stand oft am Rande eines Hochhauses und versuchte, zu springen.
Eine Sache, die du nicht tust, ist, dich umzubringen. Das sollte klar sein. Aber dann gibt es Momente, in denen ich wieder ein Kind bin. Dann sehe ich die U-Bahn einfahren und muss wieder mit mir selbst kämpfen, nicht davor zu springen, nur, um mich endlich frei zu fühlen. Oder ich sitze im Badezimmer mit einer Hunderter-Packung Valium, die ich über lange Zeit hinweg gesammelt habe, in der Hoffnung, dass es nun genug sind – und dann erinnere ich mich an die Versprechen, die ich gegeben habe.
Natürlich ist es kein Zufall, dass ich die Arten von Selbstmord wähle, die nicht zum sicheren Tod führen. Andererseits besaß ich zumindest Zeitweise eine Waffe und ich stand oft am Rande eines Hochhauses und versuchte, zu springen.
► Ein Psychiater hat mir einmal gesagt: “Wenn du einen Grund suchst, dich nicht umzubringen, dann denk nicht an deine Kinder. Deine Kinder brauchen dich zwar, aber es wird ihnen auch ohne dich gut gehen. Alle Eltern sterben früher oder später. Der wahre Grund, weswegen du dich nicht umbringen solltest: Sei ein Beispiel für deine Kinder.”
Ein Freund von mir findet diesen Gedanken verrückt. Für mich allerdings ist das der überzeugendste Grund, den ich jemals gehört habe, mich nicht umzubringen.
Als mein Arzt mir stärkere Medikamente gab, kamen die Geister
Eines Nachts – ich war wieder in der Psychiatrie – lag ich im Bett, weil ich meinen Arzt um stärkere Medikamente gebeten hatte. Er hatte sofort zugestimmt. Aber die neuen Pillen machten es unmöglich zu gehen, ohne ständig hinzufallen.
Das war der Moment, in dem meine Geister kamen. Nun konnte man wirklich sagen: Ich war verrückt geworden.
Um eins vorweg zu sagen: Ich glaube an Geister. Ich gehöre zu denen, die behaupten, sie zu sehen, wenn auch selten und unter seltsamen Umständen. Seit frühester Kindheit habe ich hin und wieder Gespenster gesehen. Aber als ich in der Psychiatrie war und starke Medikamente einnahm, wurden sie plötzlich lebendig für mich.
Während ich im Bett lag oder während der Zeit, in der ich versuchte, herumzulaufen und mich wie ein guter Patient zu benehmen, beobachtete ich die vielen Geister, die durch die Hallen und Zimmer zogen.
Alle Selbstmörder sind fast schon Geister. Ich konnte mir nie sicher sein, welche davon lebende Patienten, wie ich, waren. Welche bereits wirklich weg waren. Welche schon weg waren und sich dann entschlossen haben, zurückzukehren. Aber sie haben mir während meiner Zeit in der Psychiatrie Gesellschaft geleistet, und ich bin mir sicher, dass viele von ihnen noch da sind.
Die meisten Geister kamen regelmäßig vorbei und hielten sich strikt an ihre Routine. Mit der Zeit lernte ich sie immer besser kennen. Ich gewöhnte mich an sie. Für einige von ihnen, die mich immer wieder in meinem Zimmer besuchten, entwickelte ich so etwas wie Sympathie:
Da war zum Beispiel eine rothaarige, alte Frau in einem altmodischen Krankenhauskleid. Begleitet wurde sie von ihrem Mann, der einen Anzug trug und von dem ich dachte, dass er lange nach ihr gestorben sein musste, aber trotzdem beschlossen hatte, bei ihr zu bleiben. Ein sehr ernster junger Mann lief immer hinter dem Paar her und stellte Fragen, die ich nie ganz verstehen konnte. Alle drei saßen manchmal auf dem Bett neben mir und beobachteten mich, und ich hatte keine Angst, zurückzuschauen. Mit ihnen gesprochen habe ich nie.
Der schlimmste war ein hungriger Geist, der aussah, als käme er direkt aus der Hölle. Ich sah ihn nur gelegentlich und lief immer vor ihm davon. Er trug weiße Arbeiterstiefel, verdreckte Jeans und ein offenes Flanellhemd. Sein Bauch war geschwollen wie der eines hungernden Kindes. Ich bemerkte, wie er sich an die Schultern vieler Patienten klammerte und mit seinen dürren Händen nach ihren Pillen griff. Einmal sah ich, wie er einen anderen Geist, ein junges Mädchen, angriff und ihren Kopf gegen den Boden schlug. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die Schreie des Mädchens klangen wie eine böse Pfeife.
Dazu kamen die Geister, die ich nur einen Tag oder eine Stunde oder sogar nur einen Moment lang sah. Viele von ihnen waren wunderschön und rochen nach Zitrone, Ingwer, Rosen oder frischem, nassem Holz.
Und dann gab es Geister, die überhaupt nicht mehr wie Menschen aussahen, die eher einem Baumzweig glichen, der sachte vom Wind bewegt wurde, oder der Sonne, die in dein Gesicht strahlt, wenn du morgens vor die Tür gehst. Oder sie waren wie die Kälte, die du spürst, wenn du aus der Dusche kommst; wie ein Funkeln in den Augen, winzige blinkende Lichter; wie frisch gebrühter Schwarztee, der seinen Geruch verströmt, wenn du Milch hineingießt; oder das gute Gefühl, wenn du deine Zähne geputzt hast, in einen frischen Pyjama schlüpfst und in dein Bett krabbelst.
Alle Selbstmörder sind fast schon Geister. Ich konnte mir nie sicher sein, welche davon lebende Patienten, wie ich, waren. Welche bereits wirklich weg waren. Welche schon weg waren und sich dann entschlossen hatten, zurückzukehren. Aber sie haben mir während meiner Zeit in der Psychiatrie Gesellschaft geleistet, und ich bin mir sicher, dass viele von ihnen noch da sind.
Ich lernte damals, dass meine Vermutungen stimmten: Ich kann dem Ganzen hier nicht entkommen, indem ich mich umbringe.
Als sie meine Dosierung senkten, verschwanden die Geister.
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Ich wünschte, ich könnte sage: Das war mein letzter Aufenthalt in der Psychiatrie
Dann, eines Tages, ließen sie mich raus.
Ich wünschte, ich könnte sagen: Das war mein letzter Aufenthalt in der Psychiatrie. Aber das stimmt leider nicht. Ich habe wieder versucht, mich umzubringen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich nie mehr zurückkehren werde. Aber das kann ich nicht.
Ich glaube, ich bin ein mehr oder weniger durchschnittlicher Mann mittleren Alters. Ich stehe stehe morgens früh auf – manchmal nur, um mir einen Tee zu machen, manchmal auch, um meiner Frau Frühstück ans Bett zu bringen. Ich unterrichte meine Schüler und versuche, ihnen dabei zu helfen, ihre Ziele zu erreichen. Ich sitze mit meiner 11-jährigen Tochter am Küchentisch und helfe ihr bei ihren Hausaufgaben. Ich liebe meine Frau und meine Kinder, und ich glaube, sie lieben mich auch.
Ich wache oft gut gelaunt auf, und wenn mich jemand fragt, ob ich für mein Leben dankbar bin, möchte ich ehrlich darauf antworten, dass ich sehr, sehr dankbar bin. Dankbar zu sein hat allerdings nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun. Du kannst für etwas dankbar sein – und dich der Aufgabe dennoch nicht gewachsen fühlen. Ich bin meinem Todeswunsch nicht vollständig entkommen. Er kommt und geht.
Vor etwa einem Jahr habe ich das letzte Mal versucht, mich umzubringen – mit einer Hundeleine in meinem Keller. Ich habe keinen Abschiedsbrief geschrieben. Ich glaube nicht, dass ich das jemals getan habe.
Ich hing da und trat in die Luft. Aber ich lag nicht im Sterben, ich hatte nur schreckliche Schmerzen. Sich zu erhängen tut wirklich weh.
Ich trug einen grünen Lederstuhl aus meinem Büro runter in den Keller, als ich plötzlich meine Hündin entdeckte, die mich von der Treppe aus beobachtete. Sie hat Angst vor dem Keller, weil es dort spukt: Manchmal sitzt ein Geist mit hochgezogenen Knien in der Nähe meiner Werkbank.
Ich stellte mich auf den Stuhl, nahm die schwere, blaue Leine, befestigte sie an der Decke, knüpfte eine Schlinge, steckte den Kopf durch und prüfte den Knoten. Dann trat ich den Stuhl weg.
Ich hing da und trat in die Luft. Aber ich lag nicht im Sterben, ich hatte nur schreckliche Schmerzen. Sich zu erhängen tut wirklich weh.
Ich geriet in Panik, versuchte, sie zu unterdrücken, geriet dadurch noch mehr in Panik, und irgendwann – ich weiß nicht mehr genau, wann – zog ich mich an der Leine hoch und nahm den Kopf aus der Schlinge. Ich fiel auf den Boden und lag eine Weile lang da.
Der Stuhl liegt immer noch an derselben Stelle, an der er umgefallen ist. Es würde sich gruselig anfühlen, ihn zu bewegen – ich will den Stuhl nicht mehr in meinem Haus sehen.
Später an diesem Tag telefonierte ich mit meiner Frau Amie, die gerade verreist war. Sie fragte mich, was mit meiner Stimme los sei.
“Ich habe Halsschmerzen”, antwortete ich. Meine Kehle tat mindestens eine Woche lang weh, und einige meiner Schüler fragten mich, was mit meinem Hals passiert sei.
Eine meiner besten Schülerinnen hat vor Kurzem versucht, sich umzubringen
Vor Kurzem kontaktierte mich eine Schülerin, um mir mitzuteilen, dass sie nach einem Selbstmordversuch ins Krankenhaus eingeliefert worden ist. Sie wusste, dass sie mit mir darüber reden konnte – in meinen Philosophie-Stunden über Existenzialismus sprechen wir offen über Suizid und Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Sie ist eine der besten Schülerinnen, die ich je hatte und studiert im Doppelfach Englisch und Philosophie. Sie ist 21 Jahre alt, charmant und beliebt.
Sie sagte mir, dass sie sich nicht sicher sei, wann man sie aus dem Krankenhaus entlassen würde. Als ich sie dort besuchte, schien sie eine ironische Distanz zu sich selbst wahren zu wollen. Als ob sie über sich selbst lachen wollte und sich nicht sicher war, ob sie das tun konnte.
Ich sagte ihr, dass wir sie alle brauchen würden und dass sie versuchen sollte, sich auszuruhen. Sie warf mir einen bösartigen und enttäuschten Blick zu – das hatte ich wohl verdient. Aber es gibt einfach nicht die perfekten Worte, die einen davon überzeugen können, weiter zu leben. Es gibt Probleme, die ein Leben lang andauern werden und für die sich keine Lösung findet.
Wenn ich meine Schülerin das nächste Mal sehe (und ich hoffe, es wird ein nächstes Mal geben), dann hoffe ich, dass wir uns zusammen setzen und darüber sprechen können, warum wir beide immer noch hier sind.
Dieser Text erschien ursprünglich in der US-Ausgabe der HuffPost. Er wurde aus dem Englischen übertragen, gekürzt und redaktionell überarbeitet von Agatha Kremplewski.
Hinweis der Redaktion:
Wenn du das Gefühl hast, dein Leben macht keinen Sinn mehr, wende dich bitte an die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.
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► Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener