Die 42-jährige Aktivistin Ashrafun Nahar kämpft gegen die Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen in ihrem Heimatland Bangladesch. Sie sitzt im Rollstuhl und gründete die Frauenrechtsorganisation “Women with Disabilities Development Foundation” (WDDF), die Frauen mit Behinderungen unterstützt.
Wenn ich auf meine Vergangenheit blicke, liegt große Dunkelheit hinter mir. Daneben gibt es ein paar Dinge, die Licht in meinen Weg aus dieser Dunkelheit gebracht haben.
Als ich am Rückenmark verletzt wurde war ich 14 Jahre alt.
Mich trafen zahlreiche physische und psychische Veränderungen und Schwierigkeiten, seitdem ich im Rollstuhl saß.
Aber mein Vater, meine Zwillingsschwester und mein ältester Bruder wurden Teil meines praktischen Alltags – zuhause und in der Schule. Sie halfen mir, wieder wie früher Freude am Leben und Lernen zu haben.
Mein Vater sagte einmal zu mir:
‘Der Schöpfer hat eine Mission mit deinem Leben vor. Deshalb hast du eine Behinderung und musst beweisen, dass du nicht nur für dich selbst lebst, sondern auch für andere, die dieselben Schmerzen fühlen wie du.’
Für mich bedeutete das auch, ich konnte nicht in mein altes Leben zurückkehren. In das Leben vor meiner Behinderung.
Als mir meine Familie dann erlaubte, ein College und die Uni zu besuchen, traf mich dort die volle Härte des Lebens.
Die Lehrer begrüßten mich zwar herzlich, weil ich in der Sekundarstufe eine brillante Schülerin war – trotz aller Hindernisse und Barrieren in der Infrastruktur. Aber es gab viele in der Gemeinschaft, die mir gegenüber sehr herzlos waren.
Ich lernte sehr vieles von meinem Vater und meiner Mutter und ihrer Stärke
Mein Vater ist Arzt und sehr angesehen. Trotzdem waren die Menschen mir gegenüber unfreundlich und benahmen sich selten respektvoll.
Meine Mutter war schockiert über die negative Einstellung der Menschen, und das, obwohl auch sie immer einen großen Dienst für die Gemeinschaft geleistet hatte.
Einmal war ich ziemlich hoffnungslos und schrieb meiner Mutter eine Brief:
‘Was ist passiert nach der Schule, als ich keine zwei funktionierenden Beine mehr hatte? Bin ich nur noch ein halbes Mädchen, das nur mit einem Rollstuhl überleben kann? Es gibt in Zukunft nichts, das es mir erlauben würde, mein Studium zu beenden, ich könnte mein Leben nicht weiterführen.’
Meine Mutter verstand mich. Ich war weit weg von ihr und meinem Vater. Mein Vater war immer meine mentale Stärke, er liebte mich immer so sehr, das inspirierte mich unheimlich.
Meine Mutter schrieb mir einen langen Brief zurück, in dem sie mir erklärte, dass die Hände und die Beine, die mein Bruder hat, genauso wertvoll sind wie meine. Ich bräuchte meine Hände oder Beine nicht – um zu überleben müsse ich nur weitermachen, was ich gerade tue.
Als ich im Masterstudium war, sagte einer meiner Kommilitonen mal: ‘Weißt du, warum du eine Behinderung hast? Weil es unnötig ist, dass du auf dieser Welt lebst. Du bist Verschwendung.’
Ich fühlte, wie mein ganzer Körper von Schmerz ergriffen wurde.
Ich konnte keine Sekunde mehr schlafen. Mein Lehrer erkannte, dass etwas passiert war. Er kam eines Abends zu mir nach Hause und sagte:
“Ashrafun, wir, deine Lehrer, fühlen uns so inspiriert, wenn wir deine Leistungen sehen. Wir spüren, wie viel Hingabe du für die Fächer hast und wie intensiv du dich damit beschäftigst. Das ist wirkliche Entschlossenheit.
Warum denkst du, dass dein Leben bedeutungslos ist? Ist es sehr bedeutungsvoll, weil die ganze Institution von dir lernt, dass psychische Barrieren nur Hindernisse sind, die nicht die mentale Stärke einschränken, die du hast. Dein Kommilitone ist eifersüchtig, aber bitte gib nicht auf, du darfst nichts auf die Meinung dieses Idioten geben.”
Es gab sehr viele solcher Geschichten und Momente auf meinem Weg. Sie haben dafür gesorgt, dass ich niemals aufgegeben habe.
Ich stieß auf Widerstand und Ignoranz
All das hat mich stark gemacht für den Einstieg in die Arbeitswelt, eine komplett andere Welt, die sich mir eröffnete. Mein Herz sagte mir, dass ich jetzt stark werden musste für den Kampf.
Doch ich stieß auch auf viel Widerstand – von Seiten unserer Regierung, aber auch von Organisationen, die für die Rechte von Menschen mit Behinderung kämpfen.
Ich stieß auf Ignoranz gegenüber Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Es war wie ein Stein, der sich nie bewegt. Dieser Stein bleibt die Last von Mädchen und Frauen mit Behinderung. Sie wissen niemals, wie sie richtig atmen sollen.
Die Erinnerungen daran, wie viel Liebe mir meine Eltern, Geschwister und Lehrer entgegenbrachten, geben mir die Kraft, meine Stimme immer wieder zu erheben.
Ich begann über Diskriminierung und Barrieren zu sprechen, ich stellte mich Drohungen, schamlosen, negativen Einstellungen, Egoismus.
Ich habe mir sehr oft vorgenommen, niemals den Kopf hängen zu lassen und unterzugehen, weil ich unsere Gesellschaft verändern möchte. Für alle.
Aber es ist nicht immer bequem. Einmal fragte mich ein Minister, weshalb ich zu spät zu einem Treffen mit ihm kommen würde. Ich sagte ihm, “entschuldigen Sie Sir, aber Ihr Gebäude ist nicht behindertengerecht”.
Er war verwundert und fragte, wie es sein könne, dass noch keine der 250 Organisationen, die sich mit dem Thema Behinderung beschäftigen, dieses Problem angesprochen hätten. Ich erklärte es ihm und damals, im Jahr 2001, ließ der Sozialminister innerhalb einer Woche eine Rampe im Gebäude installieren.
Ich glaube, durch richtige Führung können wir unsere Gesellschaft verändern. Deshalb tue ich, was ich tue.
Keine Uni wollte mich zulassen – ich bewies ihnen, dass ich die Beste bin
Doch auch die negative Erlebnisse haben mich geprägt
Als ich mich wieder für ein Masterstudium bewarb, wurde ich abgelehnt – obwohl ich die besten Noten aller Bewerber hatte. Ich sagte Ihnen, dass ich beweisen würde, dass ich die Beste bin, wenn sie mir eine Zulassung zum Studium erteilen würden. Und wenn ich es nicht schaffen würde, würde ich die Uni wieder verlassen.
Widerwillig ließ mich die Uni zu. Und ich erzielte Bestnoten und brach sogar einen Rekord der Hochschule. Später erließ die Hochschule Studiengebühren für Bewerber mit Behinderungen. Danach wollte mich die Uni sogar anstellen, was ich ablehnte.
Ich stieß auf Hindernisse, immer wieder, überall im Alltag
Ich finde: Wir brauchen noch viel mehr behinderte Frauen in Führungspositionen. Die Situation verbessert sich, aber es gibt weiterhin viele negative, abwertende Einstellungen, in Familien, der Gesellschaft, der Politik. Es gibt noch viel zu tun.
Gleichzeitig ermutigen mich die vielen Hindernisse für Mädchen und Frauen mit Behinderungen, mit denen ich in meinem Leben konfrontiert wurde, jeden Tag, weiter hart zu arbeiten.
Ich glaube, Menschen werden den Schmerz nicht verstehen, wenn wir ihnen nicht die Augen öffnen.
In jedem Moment meines Lebens muss ich lernen und beweisen, dass wir Dinge genauso gut können wie andere. Ich rate allen jungen Frauen mit Behinderung: Äußere niemals deine Sorgen über deine physischen, psychischen oder wirtschaftlichen Grenzen. Konzentriere dich lieber auf das, was du tust.
Wir müssen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle schaffen
Ich trage das immer bei mir und den Glauben daran, dass ich es schaffen will für meine Schwestern, die Gesellschaft, unser Land.
Und ich will euch allen sagen: Wir leben nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere.
Wir können unsere Forderungen begrenzen, aber wir müssen zumindest Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle schaffen. Das sollte für jeden Einzelnen gewährleistet sein.
Ich fühle mich innerlich mächtig, mächtig, dass ich einen Weg einschlagen kann, den ich selbst wähle und mit Freiheit meiner Seele fülle. Ihr solltet alle in euch schauen, aber öffnet auch eure Augen und euren Blick nach außen.
Selbstbestimmung ist wichtig, aber auch Verständnis für andere ist wichtig. Du magst Schmerzen spüren, aber auch andere neben dir haben Schmerzen und stehen vor Hindernissen.
Wenn wir nicht in der Lage sind, unser Herz für andere zu öffnen, welchen Wert besitzen wir dann? Tatkraft kommt aus dem Herzen und von Bildung, also pflegt sie gut.
Der Text wurde aufgezeichnet von Uschi Jonas.