Tres Dean ist Autor und lebt in New York, USA. Während seines Studium wurde er von einer Frau auf einer Karriereveranstaltung sexuell belästigt. Es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis Dean sich diesen Vorfall als sexuellen Übergriff eingestehen konnte.
Mittlerweile kann er über seine Erfahrung sprechen – und will nun darauf aufmerksam machen, wie schwer es auch für Männer ist, sich als Opfer sexueller Übergriffe zu offenbaren.
Wenn Männer Opfer sexueller Übergriffen werden, fällt es ihnen oft sehr schwer, das zuzugeben. Und wenn ich eine Möglichkeit gefunden hätte, das Thema anzusprechen, ohne dabei von meinen persönlichen Erfahrungen berichten zu müssen, hätte ich sie in Anspruch genommen. Doch leider bleibt mir das nicht erspart.
Es fällt mir noch immer schwer, mein Erlebnis als sexuellen Übergriff zu bezeichnen. Selbst in meinem Kopf umgehe ich diese Bezeichnung, so gut ich nur kann. Meistens sage ich, dass jemand sich mir gegenüber “unangemessen verhalten” habe oder dass ich “körperlich ausgenutzt” worden sei. Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass das, was passiert ist, nicht in Ordnung für mich war. Und danach hat es noch ein weiteres Jahr gedauert, bis ich diese Tatsache auch vor anderen zugeben konnte.
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Auf einer Karriereveranstaltung wollte eine ältere Frau mich küssen
Ich war damals 23 Jahre alt und ging noch aufs College. (Es ist übrigens eine nicht so ganz unbedeutende Tatsache, dass männliche College-Studenten im Alter zwischen 18 und 24 Jahren fünfmal so häufig Opfer von sexuellen Übergriffen werden wie Mitglieder derselben demographischen Gruppe, die nicht aufs College gehen.) Ich nahm an einer wichtigen Veranstaltung der Branche teil, in der ich gerade versuchte, Fuß zu fassen. Am ersten Abend dieses Events wurde ich bei einer großen Party einer Frau vorgestellt, die ich bereits aus den sozialen Medien kannte. Ich konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie schon einiges getrunken hatte.
Wir unterhielten uns – großzügig geschätzt – 90 Sekunden lang, bevor sie sich nach vorne lehnte und mir ihre Zunge in den Hals steckte. Ich trat einen Schritt zurück. Doch sie versuchte es noch zwei weitere Male. Schließlich zog ich mich unbeholfen aus der Situation zurück. Sie kam jedoch den ganzen Abend über immer wieder zu mir zurück und unternahm in ihrem betrunkenen Zustand weitere Annäherungsversuche. Dies tat sie sowohl auf körperliche als auch auf verbale Weise. Zur Erklärung muss ich dazu sagen, dass die Frau einige Jahre älter war als ich und in unserer Branche bereits über einen relativ großen Einfluss verfügte. Ich hingegen stand damals noch ziemlich weit unten in der Hierarchie.
Ich prahlte mit dem Vorfall, weil ich kein Opfer sein wollte
Als ich an diesem Abend in mein Hotel zurückkehrte, hatte ich ein ungutes Gefühl. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass das, was passiert war, nicht normal war. Dass es nicht angemessen war. Doch ich blendete diese Stimme aus. Um mein vages Gefühl von Scham und Unbehagen zu verbergen (und um einer möglichen Blamage vorzubeugen, falls jemand den Vorfall mitbekommen hatte), tat ich am nächsten Morgen das Einzige, was mir dazu einfiel: Ich prahlte mit dem Vorfall herum.
Ich tat alles dafür, um das Geschehene wie eine lustige Partygeschichte wirken zu lassen. Ich nahm sogar Kontakt zu der Frau auf und tat so, als würde ich sie in ein paar Tagen noch einmal treffen wollen. Ich wollte mir damit selbst beweisen, dass es mir gut ging. Dass ich aktiv an der Geschichte beteiligt gewesen war und dass ich kein Opfer war. Dass alles in Ordnung war.
Doch in den darauffolgenden Monaten bekam ich plötzlich Panikattacken, wenn ich die Frau auf Veranstaltungen traf. Richtig schlimm wurde es erst, als sie mitten in einer Unterhaltung mit einem gemeinsamen Bekannten plötzlich einen Scherz über den Vorfall machte. Mir wurde klar, dass ich mich nie wieder gemeinsam mit ihr in einem Raum aufhalten wollte. Das Problem war jedoch, dass wir beide in derselben Branche tätig waren. Und deshalb mussten wir uns häufig in demselben Raum aufhalten.
Doch anstatt etwas zu sagen oder mit dem Thema abzuschließen (wie auch immer das in einer derartigen Situation aussehen sollte), ließ ich zu, dass meine Gefühle weiter vor sich hin schwelten. Ich hatte unglaublich hart daran gearbeitet, mir einen Platz in meiner Branche zu erkämpfen. Doch allmählich begann ich, mich in diesem Umfeld immer weniger wohl zu fühlen.
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Ich konnte mir nicht eingestehen, sexuell belästigt worden zu sein
Ich konnte mir jedoch noch immer nicht eingestehen, dass ich sexuell belästigt worden war. Ich konnte den Gedanken einfach nicht zulassen. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man einfach nur anerkennt, dass auch Männer Opfer von sexuellem Missbrauch werden können. Oder ob man zugeben muss, dass man selbst als Mann sexuell belästigt worden ist.
Die größte Angst, auf die wir Männer konditioniert sind, ist die, unsere Selbstständigkeit zu verlieren. Auch wenn uns das gar nicht bewusst ist. Wir wollen stets der Herr über unsere eigenen Entscheidungen und über unseren Körper sein. Wir wollen immer die Kontrolle behalten. Wenn man als Mann zugeben muss, dass man zum Opfer geworden ist, muss man dieses falsche Gefühl von Kontrolle jedoch aufgeben. Und sich selbst eingestehen müssen, dass man die Kontrolle bereits verloren hat, kann einen vollkommen kaputt machen.
Darüber hinaus besteht in unserer Gesellschaft noch immer die Klischeevorstellung, dass wir Männer zu jeder Zeit Lust auf Sex haben. Ein Mann kann eigentlich gar kein Opfer von ungewollten sexuellen Annäherungsversuchen werden. Denn schließlich sind alle Männer zu jeder Zeit für jegliche Flirt-Versuche empfänglich.
Und wenn ein Mann es tatsächlich wagt, öffentlich zuzugeben, dass er sexuell belästigt oder missbraucht worden ist, darf er sich meist nur anhören, dass er sich glücklich schätzen soll, dass er dankbar für die Erfahrung sein soll und dass es überhaupt nichts gibt, worüber er sich beschweren könnte. (Diese Aussagen stammen meist von Menschen, die auf Twitter nicht einmal ein richtiges Profilbild haben.)
Also tat ich zwei Jahre lang so, als wäre das, was mir passiert war, vollkommen in Ordnung für mich. Ich sprach die Worte “Belästigung”, “Übergriff” oder “Opfer” niemals laut aus. Und wenn sie mir doch einmal in den Sinn kamen, erinnerte ich mich selbst daran, dass ich gar nicht sexuell belästigt worden sein konnte. Denn wenn ich wirklich belästigt worden wäre, dann hätte ich doch später den Kontakt zu der Frau abgebrochen. Schließlich war es ja nicht so, dass ich sie unter gar keinen Umständen küssen wollte. Ich wollte sie nur zu dieser Zeit an diesem Ort und in ihrem derzeitigen Zustand nicht küssen. Und außerdem war ich ja um Himmels willen nicht zum Sex oder zu anderen Handlungen genötigt worden. Worüber sollte ich mich also beschweren?
Mit diesen Gedanken blendete ich Tatsachen aus, die mir eigentlich sehr wohl bewusst waren. Zum Beispiel, dass Opfer sich nach Übergriffen oft an die Täter wenden und versuchen, Frieden mit ihnen zu schließen. Und dass gegenseitiges Interesse nicht automatisch bedeuten muss, dass man auch in sexuelle Handlungen einwilligt. Doch wenn ich mir diese Dinge eingestanden hätte, hätte ich auch zugeben müssen, dass ich selbst zum Opfer geworden war.
Erst in der Therapie wurde mir bewusst, dass ich sexuell belästigt worden war
Es ist inzwischen schon eine ganze Weile her, seit mir bei einer Therapiesitzung endlich klar geworden ist, dass dieses Erlebnis nicht in gegenseitigem Einvernehmen stattgefunden hatte. Und dass ich mir selbst eingestehen konnte, dass ich sexuell belästigt worden war. Ich kann zwar noch immer nicht über alle Details des Vorfalls offen sprechen. Doch die wenigen Freunde und Bekannte, die ich eingeweiht habe, waren alle sehr unterstützend und aufgeschlossen. Sie verstehen die Situation komplett und sie haben meine Sichtweise zu diesem Erlebnis noch nie in Frage gestellt.
Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, mir darüber klar zu werden. Und dass ich mir selbst eingestehen konnte, dass mir etwas passiert ist, was meiner persönlichen Vorstellung von einem “echten Mann” widerspricht.
Zuzugeben, dass man sexuell belästigt oder missbraucht worden ist, bedeutet letzten Endes jedoch gar nicht, dass man seine Selbstständigkeit oder die Kontrolle verloren hat. Eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall. Denn wenn man sich mit seinen Erlebnissen auseinandersetzt und sich eingesteht, dass einem etwas Schlimmes passiert ist, bedeutet das eigentlich sogar, dass man die Kontrolle zurückerlangt. Es ist ein Aufbäumen gegen das Stigma, das Männer umgibt, die wagen, öffentlich über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung zu sprechen. Die Toxizität von konditionierter Männlichkeit ist eine richtige Droge. Bei manchen Männern führt sie sogar so weit, dass sie Angst davor haben, diese Kontrolle zurückzuerlangen.
Ich bin dankbar dafür, dass die Me-Too-Bewegung endlich eine öffentliche Diskussion in Gang gebracht hat. Insbesondere bin ich dem Schauspieler Terry Crews dankbar dafür, dass er sich im vergangenen Jahr immer wieder zu seinen persönlichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung geäußert hat. Diese Bewegung hat einen Raum erschaffen, in dem sich alle Betroffenen – sowohl Frauen als auch Männer – sicher fühlen können. Sie können dort über das Trauma sprechen, das sie als Opfer sexueller Belästigung oder sexuellen Missbrauchs erlitten haben. Denn oft ist dieses Trauma so besonders schlimm, weil die Opfer sich nicht trauen, darüber zu sprechen.
Ich bin jedenfalls nicht der Einzige, dem eine solche Geschichte passiert ist. Ich kenne viele Männer, die sich selbst einreden, dass sie gar nicht sexuell belästigt worden sind. Und die dieselben mentalen Tricks wie ich anwenden, um sich selbst nur ja nicht als Opfer bezeichnen zu müssen. Das ist jedoch keine gesunde Denkweise.
Ich hoffe nur, dass wir es in unserer permanenten und immer weiter reichenden Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Belästigung auch weiterhin schaffen werden, Männer dazu zu ermutigen, zu ihren Erfahrungen mit derartigen Vorfällen zu stehen. Verletzlichkeit ist kein Zeichen von Schwäche. Und dass man zum Opfer geworden ist, bedeutet auch nicht, dass man sich dafür schämen muss.
Dieser Blog erschien ursprünglich bei der HuffPost USA und wurde von Susanne Raupach aus dem Englischen übersetzt.