„Lang lebe der König. Lang lebe der König“, singen tausende Stimmen.
Ihr leiernder Gesang springt abrupt zwischen den Noten hin und her. Für das westliche Ohr ist das ungewöhnlich.
Einige, die hier in Riad in der Menge stehen, tragen einen Qamis, das für Saudi-Arabien so typische weiße Gewand, und einen Shemagh, das dazu passende rot-weiße Kopfband.
Die meisten sind in ein schwarzes Abaya-Gewand und in ein Kopftuch gehüllt, das nur das Gesicht großzügig freilässt.
Dann droppt David Guetta den Beat.
Die saudische Crowd tanzt und springt. Immer wieder Jubelrufe. Männer nehmen ihre Freunde auf die Schultern. Manche sogar eine Freundin – fast, wie man es von Musikfestivals im Westen kennt.
David Guetta zum Schluss
Das dreitägige Formula-E-Festival in Riad, am Rande des gleichnamigen Autorennens, ist für viele Menschen hier ein historischer Moment.
In Saudi-Arabien, einem der konservativsten Länder der Welt, war ein solches Spektakel jahrzehntelang undenkbar.
Der französische Star-DJ David Guetta mischt zum Abschluss dieses bedeutenden Events auch arabische Lieder in sein treibendes House-Set mixt.
Das ist sinnbildlich für die historische Phase, in dem sich das Land befindet, das gerade vor allem wegen der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi massiv in der Kritik steht.
Während die junge Generation mit wilder Entschlossenheit nach Westen strebt, lockert die Königsfamilie um Kronprinz Mohammed Bin Salman (MBS) zumindest langsam gesellschaftliche und religiöse Restriktionen.
Die Tradition Saudi-Arabiens aber wird weiterleben. Und wirkliche Freiheit ist abseits der Festivalbühne der Formula E immer noch ein verbissen umkämpfter Wert.
Ein Hauch von kultureller Freiheit
Es ist nicht das allererste Konzert mit internationalen Popstars in Riad, aber bei weitem das bislang bedeutendste.
Im Jahre 2017 durfte der US-amerikanische Countrystar Toby Keith in der saudischen Hauptstadt auftreten. Vergleichbar mit der Euphorie, die das Formula-E-Festival auslöste, war die Resonanz damals aber nicht.
Zum ersten Mal seit rund 40 Jahren – heißt es hier – erlebt die Stadt so etwas wie kulturelle Freiheit. Im Jahre 1979 hatte das saudische Königshaus nach der Besetzung der Großen Moschee von Mekka durch Islamisten begonnen, die eigene Religionspolitik zu verschärfen. Seither bestimmt eine strenge Auslegung der Scharia das Leben der rund 35 Millionen Saudis.
Kein Alkohol, eine strikte Trennung von Männern und Frauen und auch: kein Gesang. Vor allem keine westliche Popmusik. „Seid ihr bereit?“ ruft David Guetta nun. Die Saudis könnten kaum bereiter sein – zumindest nicht die, die sich hier eingefunden haben.
► Trägt auf den Straßen Riads an Wochentagen noch immer die Mehrheit der Menschen die traditionelle saudische Kleidung, haben besonders junge Männer ihre Gewänder nun gegen T-Shirts und Hoodies getauscht.
► Ein Musikfan trägt ein Einhornkostüm, auch unverhüllte Frauen haben sich ins Publikum gemischt.
Ein leuchtender Schwarm von Smartphonebildschirmen hebt ab in die Lüfte, sobald David Guetta die Bühne betritt. Alle wollen diesen Moment einfangen.
Wer es sich leisten konnte, besuchte in der Vergangenheit bereits Konzerte im Ausland. Hunderttausende Saudis studieren jedes Jahr außer Landes, die meisten von ihnen in den USA. Für viele hier vor der Bühne aber ist es der erste Konzertbesuch ihres Lebens.
“Es ist riesig für die Menschen hier”
Randah, eine junge Frau mit freundlichen dunklen Augen, umrahmt von ihrer schwarzen Abaya, sagt: „Es ist riesig für die Menschen hier. Es gibt endlich Unterhaltungsmöglichkeiten für uns. Und es wird nur ein erster Schritt sein, zu weiteren Öffnungen.“
An Neujahr etwa sei es bislang Gang und Gebe, dass drei Viertel des Landes verreise, da es in Saudi-Arabien nichts zu tun gebe. Nun würden zum ersten Mal viele ihrer Freunde überlegen, zu bleiben.
Eine andere Frau berichtet später: „Die Formula-E-Konzerte waren geschlechterübergreifend, man hat Jungen und Mädchen herumspringen und schreien gesehen, singen und zusammen Spaß haben. Noch vor Jahren war das unvorstellbar.“
Keine Rempeleien, keine Belästigungsfälle
Aus westlicher Perspektive mutet nicht nur die Kleidung einiger Festivalbesucher fremd an.
Es ist vor allem der Fakt, dass an diesem Abend kein Tropfen Alkohol über die Theke geht, der in anderen Regionen der Welt undenkbar wäre. Ganz nüchtern wirkt hier dennoch niemand, so berauscht ist die Stimmung.
Dennoch – und das ist bemerkenswert: Es kommt nicht zu Rempeleien. Belästigungsfälle werden nicht bekannt. Menschen, die sich aneinander vorbei zur Bühne drängen, entschuldigen sich freundlich.
Fast jeder hat ein breites Lächeln auf den Lippen, manche Familien haben sogar ihre kleine Kinder mitgenommen: Die neue Freiheit auskosten.
Der Nahostexperte Ghanem Nuseibeh schreibt bei Twitter: “Zu sehen, wie tausende junge Saudis bei Konzerten tanzen, ist nicht nur gut für Saudi-Arabien, sondern für die ganze Welt.”
Für die saudische Jugend werden die Fußfesseln des Konservativismus durch MBS entfernt. Dieser Drang nach Modernisierung ist das effektivste Gegenmittel gegen Extremismus.
Nur “kosmetische Veränderungen”?
Ganz so optimistisch sind nicht alle.
► Immer wieder hört man auch etwas anderes: Formula E sei doch nur eine Ausnahme.
► Ein Versuch des Kronprinzen, die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Womöglich auch neue Investoren anzuziehen. Immerhin ist das Rennsportevent in der saudischen Hauptstadt auch ein riesiges Geschäft.
► Kritiker sprechen statt einem wirklichen Wandel in Saudi-Arabien gerne von „kosmetischen Veränderungen“. Die großspurig angekündigte Modernisierungskampagne, die Agenda 2030 des Königshauses, sei nur eine Imagekampagne.
Etwa im Falle der Liberalisierung der Frauenrechte: Zwar dürfen saudische Frauen seit diesem Sommer Autofahren, gleichzeitig aber geht das Königshaus immer entschiedener gegen Frauenrechtlerinnen und feministische Aktivisten vor.
Wegen skrupelloser Kampagnen wie dieser kommt auch nicht bei allen gut an, dass David Guetta ein Lobeslied auf den König anstimmen lässt.
► Bei Twitter schreibt ein Nutzer: „Stell dir vor, du genießt ein Konzert und auf einmal spielt der DJ ein Lied über den saudischen König. So eine Enttäuschung.”
► „Ich wollte nur Liebe und Respekt für eure Kultur zeigen“, ruft David Guetta der Menge zu.
Wer in die Gesichter der Menschen hier blickt, der erkennt schnell: Für sie geht es in diesen Stunden ohnehin nicht um Politik.