Nach Wochen des Widerstandes gegen ihre Brexit-Pläne hat Premierministerin Theresa May das Votum im britischen Unterhaus am Montag kurzfristig platzen lassen.
Bis zum 21. Januar soll nun das Parlament über Mays Deal abstimmen, wie die Regierung am Dienstag erklärte.
Bereits am Sonntag wurde der Ruf wichtiger Kabinettsminister nach einer Verschiebung der Abstimmung lauter.
► Sie – und wohl auch May – wissen, dass das Abkommen zum EU-Austritt Stand jetzt sowohl von der Opposition als auch von Teilen der eigenen Partei und des Koalitionspartners abgeschmettert werden würde.
► May braucht Zeit, sie fleht förmlich dafür.
Schon am Sonntag teilte sie Irlands Premierminister Leo Varadkar und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk telefonisch mit, dass sie zusätzliche Zusicherungen in der Nordirland-Frage brauche, um den Deal zu verkaufen.
Fehler der Führungsmannschaft um May
Die künftige Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland, das als Teil des Vereinigten Königreich die EU verlassen soll, ist der größte Streitpunkt.
Aus Sicht des Verbündeten von Mays Minderheitsregierung, der nordirischen Kleinpartei DUP, birgt die bisherige Vereinbarung die Gefahr, dass die komplette Insel vom Handelsgebiet Großbritanniens getrennt wird.
Schon länger war deswegen über der Verschiebung des Brexit-Abstimmung spekuliert worden. Offiziell hieß es zwar, dass das Kabinett von May “konsultiert” worden sei.
In Wirklichkeit gehörten aber Tory-Fraktionschef (umgangssprachlich wird der als Chef-“Einpeitscher” bezeichnet, im Englischen auch “Whip”) Julian Smith und Verteidigungsminister Gavin Williamson zu den insgesamt acht Konservativen, die den Aufschub wirklich vorangetrieben hatten.
► Das zeigt: Der Premierministerin blieb kaum eine Wahl. Und sie wird von ihrem eigenen Kabinett getrieben.
► Exklusive Stimmen aus Mays Partei zeigen nicht nur, wie zerstritten die Konservativen sind. Sie offenbaren auch, welche Fehler die Führungsmannschaft der Tories gemacht hat und die Premierministerin in eine schier ausweglose Situation manövriert haben.
“Seltsame, beunruhigende Atmosphäre”
Als May am Montagnachmittag im Parlament die bereits zuvor durchgesickerte Nachricht bestätigte, machte sich auf den Bänken der Opposition eine Mischung aus Spott und Lachen breit.
In den Reihen der Tories hinter May herrschte eisige Stille.
“Es gibt hier drin eine so seltsame, beunruhigende Atmosphäre”, heißt es in einer SMS eines ehemaligen Tory-Ministers an die HuffPost UK. “Julian (Smith) sieht aus, als hätte er gerade eine Wespe gegessen.”
Besonders heftig war die Attacke von Nigel Dodds, dem Westminster-Chef der DUP.
Während der gut dreistündigen Sitzung bemerkte er: “Offen gesagt, was die Premierministerin heute sagt, ist einfach nicht glaubwürdig, oder? Bitte, Frau Premierministerin, fangen Sie wirklich an zuzuhören und kommen Sie mit Änderungen des Austritts-Abkommens zurück – oder es wird abgelehnt.”
Für das Fiasko der letzten Wochen machen Beobachter vor allem die Fraktionsspitze unter Führung von Smith verantwortlich. Ein Debakel, das schon im vergangenen Jahr begann.
Dem 47-Jährigen werden eine Reihe von Fehlern vorgeworfen:
► Als die Labour-Partei im Sommer 2017 Mays Regierung dazu drängte, auf Schlüsselfragen wie die Veröffentlichung der Abschätzungen der Brexit-Folgen zu reagieren, unterschätzte Smith, wie gefährlich dieses Thema werden sollte.
► Zugleich verstand es Smith nicht, die konservativen Abgeordneten für die Anliegen der Premierministerin zu mobilisieren. Erschwerend kam hinzu, dass die Fraktionsspitze bei der Kernfrage gespalten war, ob man dem Parlament mehr Mitspracherecht bei Brexit-Alternativen geben sollte.
► Ein Tory-“Einpeitscher” erklärte, er hatte das Gefühl, dass Smith und dessen Stellvertreter, Chris Pincher, einige Abgeordnete ermutigen, den entsprechenden Änderungsantrag zu unterstützen, anderen aber rieten, sich ihm entgegenzustellen. “Es ist, als wollten sie Brexit-Befürworter so sehr erschrecken. Doch sie wussten nicht wirklich, was sie taten”, sagte einer der Beteiligten der HuffPost UK.
► Einige Hinterbänkler waren sogar so überrascht, dass die Fraktionsführung sie scheinbar aufgegeben hatte und dass auch die Premierministerin kein Interesse daran zeigte, sie zu treffen.
“Er hat keine Ahnung von Politik”
Doch auch Smiths Stellvertreter Pincher wird von Tory-Rebellen scharf kritisiert.
“Er hat keine Beziehung zur DUP und hat keine Ahnung von Politik. Die besten ‘Einpeitscher’ kennen die Politik und die Zahlen, diese Jungs kennen keine”, sagte ein besonders wütender Rebell. Er wirft dem Fraktionschef vor, zu viel bei der Premierministerin, aber zu wenig bei den Tory-Abgeordneten gewesen zu sein.
► Hat deswegen die Fraktionsdisziplin gelitten?
Ein ehemals führender Tory-Politiker sagt, dass es in den vergangenen, entscheidenden Tagen viele Abgeordnete eher zu Verteidigungsminister Williamson als zu Smith zog, um ihre Bedenken vor einer Spaltung der Partei weiterzugeben, wenn May mit der Abstimmung durchziehen würde.
“Whips bekommen immer die Schuld, wenn etwas schief geht, aber selten die Anerkennung, wenn es richtig läuft”, sagt einer.
“Aber der große Fehler der Regierung ist, dass sie versucht, Beziehungen zu Abgeordneten nur in schwierigen Zeiten aufzubauen.”
Es fehlt an fähigem Personal
Im Tory-Lager weist man darauf hin, dass es dem Büro der gesamten Fraktionsführung an erfahrenen, älteren Akteuren mangelt, die benötigt werden, um die zunehmend blank liegenden Nerven in einer Minderheitsregierung zu beruhigen.
► Wie die Website von Conservative Home gezeigt hat, sind Smith und Pincher und ihr treuer Kollege Mark Spencer nur zweieinhalb Jahre im Amt, und der Rest ihres Teams im Durchschnitt nur 18 Monate. “Es gibt einfach keine Erwachsenen”, sagt ein Rebell.
Zu allem Überfluss hat May einige der besseren Mehrheitsbeschaffer ins Ministerium entsorgt. Ehemalige Minister, die Warnschüsse geschickt haben, wurden ignoriert. Auch diejenigen mit Erfahrung in Nordirland wurden nicht um Rat bei der Handhabung der DUP gebeten.
Verteidiger der Fraktionsführung sagen, dass diese nicht für die taktischen und strategischen Fehler von Downing Street verantwortlich gemacht werden können. Der Artikel 50 sei zu früh ausgelöst worden und die Erwartungen an einen harten Brexit seien zu hoch gewesen.
Chaotischer Charakter der “Zombie”-Regierung
Am Montagabend wurde der chaotische Charakter dieser “Zombie”-Regierung an ihrem chaotischsten Tag noch mit noch mehr Spott unterstrichen. Ein Junior-”Einpeitscher” versuchte, die Brexit-Abstimmung offiziell auf ein unbestimmtes Datum zu verschieben. Dafür rief er im Parlament “morgen”.
► “Es ist im Parlament üblich, “morgen” zu rufen, dass dies der Regierung erlaubt, eine Debatte über ein Datum ihrer Wahl wieder aufzunehmen. Das bedeutet nicht, dass die Debatte morgen fortgesetzt wird”, sagte eine Quelle Nr. 10.
► Der Schachzug funktionierte, aber er hinterließ einen bitteren Geschmack im Mund von Tory- und Labour-Abgeordneten.
Helen Goodman von Labour zitierte Macbeth. “Morgen, morgen, morgen und morgen, kriecht es in diesem kleinen Tempo von Tag zu Tag.”
Alle Augen sind in der Tat auf die kommenden Tage und Wochen gerichtet.
Auch, wenn May etwas Luft zum Atmen bekommt: Für viele in ihren Reihen erstickt ihr Brexit-Plan so langsam, aber sicher die Partei.
Der Artikel erschien zuerst in der HuffPost UK. Ins Deutsche übersetzen ihn Benjamin Reuter, Marco Fieber und Jürgen Klöckner.