Russlands Fernsehzuschauer bekommen das Fürchten zu lehren. Was etwa in den Nachrichten des Staatssenders Rossija 24 zu hören war, klang fast so, als werde das Land angegriffen: “Ukrainische Schiffe haben die russische Staatsgrenze verletzt”, verkündete der Sprecher aufgeregt.
Es war von einer “Provokation” die Rede, mit der Kiew von den Problemen im eigenen Lande ablenken wolle und im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr Wahlkampf betreibe. Hinter allem stünden die “amerikanischen Gebieter”, die der Regierung “rund um die Uhr” Anweisungen erteilen würden, erfuhren die Fernsehzuschauer.
In einer Sondersendung der Talkshow “60 Minuten” erfuhren die Zuschauer zwischen Kaliningrad und Wladiwostok wenig später, dass es sich um eine “Spezialoperation der US-Geheimdienste” gehandelt habe, mit der eine “neue Etappe der modernen Kriegsführung” erreicht sei.
Ähnlich äußerte sich auch das Außenministerium in Moskau: Dort spricht man von einer “amerikanisch-europäischen Verschwörung”. Die “Provokation in der Straße von Kertsch” solle als Vorwand dienen, um den Westen zu weiteren Sanktionen gegen Russland zu bringen.
“Die Ukrainischen Matrosen, die gegen das Gesetz verstoßen haben, sind festgenommen, sie werden vor Gericht kommen”, so lauteten die ersten Worte in den Abendnachrichten vom Montag im Ersten Kanal Russlands. In der 22 Minuten langen Nachrichtensendung war 16 Minuten nur von dem Konflikt die Rede.
Die ukrainische Darstellung ist genau umgekehrt – eine Rekonstruktion der Ereignisse und wie der Kreml versucht, von der Eskalation zu profitieren.
Eskalation an der Straße von Kertsch: Kein Zufall, sondern geplant
Kiew spricht von einem “unverhüllten militärischen Angriff” auf die Ukraine. “Wir haben alle Beweise in der Hand, dass es sich nicht um einen Zufall, sondern um eine geplante Aktion handelte”, erklärte Präsident Petro Poroschenko. Auch er spricht von einer Provokation, mit der Kremlchef Wladimir Putin von den Problemen im eigenen Land ablenken will.
Tatsächlich sind die Umfragewerte des Präsidenten in den vergangenen Wochen vor allem aufgrund wachsender wirtschaftlicher Probleme auf für ihn beunruhigende Werte gefallen, und im Kreml dürften die Alarmglocken klingeln.
Russische Oppositionspolitiker, wie der frühere Vize-Chef des Sicherheitskomitees der Duma Dmitrij Gudkow warnen seit langem davor, dass Putin auf innenpolitische Probleme – wie bereits mehrfach in der Vergangenheit – mit außenpolitischen Aggressionen antworten könnte.
Sarkastisch beschreibt Gudkow, wie die Eskalation auf die Menschen in Russland wirken soll – durch das Schüren von Kriegsangst:
“In Moskau werden Leute aus ihren eigenen Wohnungen geschmissen. Das Moskauer Umland wird mit Müll verseucht. Der Rubel-Kurs fällt. Unsere Satelliten fallen vom Himmel. Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen. Die Regierung fordert die Menschen dazu auf, mit 3500 Rubel (umgerechnet etwa 35 Euro) im Monat satt zu werden und keine Kindern mehr in die Welt zu setzen. All das ist jetzt unwichtig, vergesst all das, jetzt heißt es: An die Waffen! Ein ukrainisches Motorboot hat uns überfallen! Das heilige Russland ist in Gefahr!”
Aber man könnte die Menschen nicht endlos betrügen, bemerkt Gudkow. Wie im Märchen habe Putin schon so oft geschrien, dass der Wolf komme, dass die Menschen den Trick inzwischen durchschauten, und wissen, dass nicht der Wolf die Schafe klaut, sondern derjenige, der immer “Wolf” schreit. Deshalb werde sich Putins Beliebtheit diesmal durch die Eskalation nicht pushen lassen.
Schüsse um kurz vor 21 Uhr
Doch was passierte nun am Sonntag tatsächlich in der Meerenge von Kertsch?
Kurz vor 21 Uhr fielen dort Schüsse. In Aufzeichnungen des Funkverkehrs, die Kiew veröffentlicht hat, ist eine Drohung auf Russisch zu hören: “Sofort die Fahrt drosseln, sonst werde ich das Feuer auf Euch eröffnen!”
Wenig später stürmten russische Sondereinsatzkräfte drei kleinere ukrainische Marineschiffe: Die “Yani Kapu” und ihre Begleitschiffe “Berdjansk”und “Nikopol”.
Laut Kiew wurden dabei sechs Ukrainer verletzt, zwei davon schwer. Nach Angaben des russischen Inlandsgeheimdienst FSB wurden dagegen nur drei Ukrainer verletzt, und auch nur leicht.
Fakt ist: 23 ukrainische Matrosen wurden in Gefangenschaft genommen. Moskau ließ die gekaperten ukrainischen Schiffe in den Hafen von Kertsch fahren und weigert sich bislang, sie freizugeben.
Will man den Hintergrund der Eskalation verstehen, muss man auf die Landkarte blicken:
Seit der laut UNO völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 ist die Meerenge von Kertsch faktisch ganz in russischer Hand.
Aber durch sie müssen alle ukrainischen Schiffen, wenn sie von den Häfen im Südwesten ihres Landes im Schwarzen Meer in die Häfen im Südosten im Asowschen Meer wollen: Es ist der einzige Weg.
Aus Kreml-Sicht ist das strategisch wichtige Nadelöhr seit der Besetzung der Krim russisches Hoheitsgebiet – Russland macht die Zwölf-Meilen-Zone vor seiner Küste geltend.
Da Kiew genauso wie die UNO die Annexion der Halbinsel nie anerkannte, betrachtet die Ukraine sie und damit auch das Küstengebiet weiter als eigenes Territorium.
Russland verschlimmerte die ohnehin angespannte Situation
Rechtlich entscheidend ist aber ein ganz anderer Faktor: Nach einem Abkommen zwischen Russland und der Ukraine von 2003 werden das Asowsche Meer und die Straße von Kertsch von beiden Ländern gemeinsam verwaltet.
Beide Seiten dürften demnach Kontrollen durchführen, im Asowschen Meer und in der Meerenge herrscht demnach freie Fahrt.
Dieser Vertrag ist bis heute rechtlich bindend. Und auf ihn hat sich auch die Besatzung der drei geenterten ukrainischen Marineschiffe berufen.
De facto hält Russland aber den Vertrag nicht ein und setzt das Recht des stärkeren durch. Mehr noch: Nach einem Bericht der renommierten Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fügen die russischen Behörden der Ukraine mir ihrem Verhalten an dem Nadelöhr massiven wirtschaftlichen Schaden zu.
► Demnach wurde das gesamte Asowsche Meer zeitweise für russische Militärübungen geschlossen.
► Der russische Inlandsgeheimdienst FSB kontrolliere vermehrt Schiffe. Diese Kontrollen zögen sich teilweise tagelang hin und beträfen ausschließlich ukrainische Schiffe.
Die SWP warnt:
“In der Folge verschlechtert sich die ohnehin angespannte Situation in den wirtschaftlich auf ihre Häfen angewiesenen Städten Berdjansk und Mariupol weiter.”
Dazu kommt: Seit dem Bau der Krim-Brücke – einer Verbindung zwischen der Halbinsel und Südwest-Russland und ein Lieblingsprojekt von Putin – können zudem nur noch Schiffe mit bis zu 33 Meter Höhe die Meerenge durchfahren.
Beobachter sprechen von einem seit Monaten anhaltenden Kleinkrieg an dem Nadelöhr. Und Moskau demonstrierte am Sonntag, wie einfach die diese verbliebene Öffnung blockieren konnten: Es flogen nicht nur russische Kampfjets und Militärhubschrauber über die Meerenge. Russland stellte auch direkt unter der neu errichteten Brücke ein Frachtschiff quer, der gesamte Schiffsverkehr war so bis Montag blockiert. Damit verletzte Russland seine vertraglichen Pflichten im Asowschen Meer.
Doch der Kreml schiebt die Schuld auf die Ukraine: Kiew habe die Verlegung der drei Militärschiffe nicht vorab angekündigt.
30 Tage Kriegsrecht
Die ukrainischen Behörden widersprachen der Moskauer Darstellung: Sie hätten die Verlegung der Schiffe vorab gemeldet – Moskau habe allerdings nicht geantwortet.
Der ukrainische Präsident Poroschenko hat jetzt einen Schritt gemacht, den er trotz der bis heute andauernden Kämpfe in der Ost-Ukraine vermied: Er verhängte per Dekret das Kriegsrecht, das Parlament segnete es am Montagabend ab. Für 30 Tage hat nun Poroschenko das Recht, in den Grenzregionen zu Russland nach dem Kriegsrecht zu regieren.
Einem Vorwurf nahm er aber gleich die Spitze: Er wolle mit dem Kriegsrecht keine Verschiebung der Wahl erreichen. Auch die Abgeordneten schoben dem einen Riegel vor und terminierten die Wahl für den 31. März 2019.
Die Vorgänge haben in jedem Fall eine neue, gefährliche Eskalationsstufe erreicht. Und die Motivlage in Kiew und Moskau macht wenig Hoffnung auf eine Deeskalation.
► Poroschenko kann sich kurz vor den Präsidentschaftswahlen nicht erlauben, Schwäche zu zeigen.
► Ebenso wenig wie Putin, auch wenn diesem keine Wahlen bevorstehen.
Für beide Staatschefs könnte eine weitere Eskalation den Effekt haben, dass sie von wirtschaftlichen Problemen und Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer Regierung ablenkt.
“Die Trump-Regierung wird das schlucken!”
Wie sollte also der Westen reagieren?
Der Moskauer Oppositionspolitiker und frühere Vize-Gasminister Wladimir Milow warnt vor einem Wegsehen. Er sieht in der Eskalation in der Meerenge eine Art Lackmustest. Schon seit langem habe er davor gewarnt, dass Putin durch eine militärische Konfrontation austesten wolle, wie weit ihn US-Präsident Donald Trump gehen lasse, sagt Milow. Dies sei nun in der Meerenge passiert, bemerkt das Ex-Regierungsmitglied:
“Putin versucht de facto, durch ein paar Schüsse dem Asowschen Meer seinen Status als internationales Gewässer zu nehmen und es Russland einzuverleiben.”
Wenn darauf keine entschlossene Reaktion erfolge, wäre das beispiellos. “Aber ich denke, so eine Reaktion wird nicht kommen, genauso wenig wie auf die Ermordung von Khashoggi“ – dem abtrünnigen saudi-arabischen Journalisten“ in der Türkei. Die Trump-Regierung werde auch die Eskalation am Asowischen Meer “schlucken“, glaubt Milow.
Im UN-Sicherheitsrat hat Russland jedoch scharfen Gegenwind zu spüren bekommen. Der Vorfall sei eine “skandalöse Verletzung” der ukrainischen Souveränität gewesen, sagte US-Botschafterin Nikki Haley am Montag in New York bei einer Dringlichkeitssitzung des Gremiums. Die wiederholten “gesetzlosen Handlungen” Russlands machten es unmöglich für Trump, eine normale Beziehung zu Moskau aufzubauen.
Zwar forderte der ukrainische UN-Botschafter Wolodymyr Jeltschenko stärkere Sanktionen, unter anderem das Einfrieren von Konten ranghoher russischer Regierungsmitarbeiter, doch danach sieht es derzeit nicht aus. Auch, weil der genaue Ablauf des Zwischenfalls noch nicht vollends aufgeklärt ist.
Eine Aussage spricht besonders für einen geplanten Akt Moskaus: Aufhorchen lässt dabei ausgerechnet Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow. In den Abendnachrichten sprach der gelernte Diplomat so aufgekratzt – als ob er nächtelang nicht geschlafen habe – von einer “besonders gefährlichen Provokation”.
Der Präsident habe, so sein immer sehr vorsichtig agierender Sprecher und Vertrauter, “von der Annäherung der ukrainischen Schiffe schon in der ersten Minute erfahren”.
Sollte diese Aussage tatsächlich der Wahrheit entsprechen, dann nährt sie massiv Milow These: Nämlich, dass die gesamte Aktion vorab geplant gewesen sein könnte – und den Segen von ganz oben hatte.
Warum sonst würde der Präsident ab “der ersten Minute” auf dem Laufenden gehalten, wenn sich drei kleine ukrainische Schiffe “annähern”?
Mit Material von dpa.